Stadtgestaltung:Denk mal

Lesezeit: 3 min

Astronauten grüßen von einem Planeten vorbeigehende Passanten. (Foto: Thomas Hahn)

In Südkoreas Hauptstadt Seoul schreibt ein Gesetz vor: Schmucklose Ecken müssen mit Kunstwerken verschönert werden.

Von Thomas Hahn

Plötzlich lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Dabei gehört die Ecke Gukjegeumyung-ro 8-gil/Uisadang-daero sicher nicht zu den reizvollsten Plätzen der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Die Uisadang-daero ist ein zehnspuriges Ungetüm im Finanzdistrikt Yeouido, an deren Ende man die Kuppel des Nationalparlaments sieht. Die Gukjegeumyung-ro 8-gil trifft auf die große Straße zwischen gesichtslosen Hochhäusern. Ein Ort zum Vorbeigehen. Sauberes, urbanes Einerlei, nichts Besonderes. Dachte man.

Doch dann ragt am Straßenrad in einem kleinen japanischen Garten eine Skulptur aus pastellfarbenen Ringen auf, eine Spirale, die wie eine überdimensionale stehen gelassene DNA-Helix aussieht. Auf der anderen Straßenseite sticht an der Ecke ebenfalls etwas ins Auge: ein Bündel meterhoher Stimmgabeln? Im Pflaster davor ist der Titel des Kunstwerks auf Englisch und Koreanisch eingelassen: "Infinite Cross". Und jenseits der Kreuzung, über die gerade ein Bus fährt, ist noch etwas: ein Steindenkmal spielender Kinder.

Solche Begegnungen hat man oft in Seoul. Man glaubt, sich in einer Wüste aus Zweckbauten verlaufen zu haben, und steht auf einmal doch vor einer farbigen Figur oder einem seltsamen Gestell. Die Stadt betreibt nicht nur Denkmalschutz. Sondern auch aktive Denkmalschöpfung für die Zukunft. Öffentliche Kunst ist hier eine Pflicht, die das Gesetz vorschreibt.

An manchen Stellen wirkt Seoul verloren

Insgesamt strahlt Seoul eher einen spröden Charme aus. Die Metropole ist ein Durcheinander aus Zweckarchitektur, Avantgarde-Hochhäusern, gemütlichen Backsteinvierteln in den Hügeln. An manchen Stellen wirkt sie für immer verloren an betongraue Trostlosigkeit. Dann wieder scheint mitten in der Stadt die Natur gewonnen zu haben, Räume kreativer Stadtentwicklung öffnen sich. Paläste, Tempel und alte Wallanlagen erinnern mitten in der Großstadthektik an die reiche Geschichte der alten koreanischen Kapitale. Man sieht den Berg Bukhansan, und an Sonnentagen wälzt sich der mächtige Han-Fluss wie eine blaue glitzernde Schönheit an den weitläufigen Ufern vorbei.

Ein Mädchen lässt mitten vor einem Gebäude Luftballons steigen. (Foto: Thomas Hahn)

Knapp zehn Millionen Menschen leben in Seoul. Wenn man den Speckgürtel der Riesenstadt mitrechnet, hat hier die Hälfte der 52-Millionen-Nation Südkorea ihr Zuhause gefunden. Die Immobilienpreise sind in die Höhe geschossen, manche Wohnhochhaussiedlung wirkt wie ein Ghetto für Besserverdienende, und die Verdrängung Einheimischer ist ein Problem. Aber dass Seoul würdelos über sich hinausgewachsen wäre, ohne jede Rücksicht auf Ästhetik und Lebensqualität, kann man auch nicht sagen. Die Skulpturen stehen für den festen Willen der Stadt, nicht vor den sterilen Fassaden des Gewinnstrebens zu kapitulieren.

Seit 1995 gibt es das Gesetz zur Installation von Kunst an Gebäuden. "Die Absicht war, künstlerische Vitalität in die urbanen Landschaften zu bringen sowie Kunst und Kultur zu fördern", teilt die Abteilung für Design-Politik der Seouler Metropolregierung mit. Das Gesetz schreibt vor, dass Bauherren großer Gebäude mit einer Fläche von 10 000 Quadratmetern ein Prozent ihrer Gesamtbaukosten für öffentliche Kunst ausgeben müssen. Nach Auskunft der Stadt sind die meisten der mehr als 4000 Kunstwerke in Seoul nach diesem Gesetz entstanden.

Nicht jeder Gebäudebesitzer zeigte dabei den notwendigen Kunstsinn. "In den vergangenen Jahren hatten wir viele Fälle, in denen Bauherren Werke geringer Qualität aufgestellt haben", sagt Seouls Vizebürgermeister Seo Jung-hyup. Die Stadt hat deshalb ein eigenes Komitee für öffentliche Kunst gegründet. Darin sitzen Fachleute, die bei Bedarf Nachhilfe leisten. "Wenn der Bauherr sich nicht sicher ist, was für eine Skulptur er aufbauen soll, können sie sich an das Komitee wenden, eine bestimmte Summe zahlen, und wir installieren dann die Kunst an dem Gebäude", sagt Seo.

Die Skulpturen wirken wie Mahnmale

Ob das jedem Investor gefällt, der Öffentlichkeit gefallen zu müssen, ist eine ganz andere Frage. Aber Seouls Stadtverwaltung nimmt die Kunst ernst. Es geht darum, nicht nur irgendwie zu protzen mit dem Wohlstand des Tigerstaats, sondern mit Anspruch und Kultur zu wachsen. Die Skulpturen wirken wie Mahnmale gegen die Übertreibungen des Kapitalismus. Natürlich gibt es auch historische Denkmäler in Seoul. Die riesigen Statuen des Admirals Yi Sun-Shin und von König Sejong dem Großen am Gwanghwamun-Platz zum Beispiel. Aber alte Schätze zu bewahren, reicht der Metropolregierung nicht in diesen Zeiten, die in Südkorea die Chaebols prägen, die großen Familienunternehmen wie Samsung oder Hyundai.

Und so trifft man in Seoul ständig auf Blickfänge am Wegesrand. Sie sind nicht immer schön. Manchmal wundert man sich über die farblose Wucht der Monumente. Aber oft brechen sie auch den Ernst des Alltags, wie zum Beispiel die bunten Figuren der Skulptur "Happy Time" in Guro: Eine Parodie auf das spazierende Großstadtpaar mit frisiertem Hund. Oder wie die Installation "Beautiful Dreamer" in Myeongdong: Ein Mädchen, das mitten im pulsierenden Einkaufsbezirk vor der Glasfront eines Geschäftsgebäudes Luftballons steigen lässt. Die Skulptur ist aus Stahl, aber wirkt so leicht, als trage tatsächlich der Wind die farbigen Ballons.

Eine Spirale dreht sich in den Himmel von Seoul. (Foto: Thomas Hahn)

Die Stadt verweist auch auf ausländische Werke: zum Beispiel auf die hoch aufragende Muschel-Figur "Spring" des schwedisch-amerikanischen Bildhauers Claes Oldenburg am Cheonggyecheon Platz oder auf den "Hammering Man" des Amerikaners Jonathan Borofsky am Gwanghwamun-Platz. Doch die meisten Skulpturen in Seoul stammen von koreanischen Künstlerinnen und Künstlern. Das Talent und die Fantasie der Einheimischen sollen hochleben beim Gestalten der wichtigsten Metropole im Land. Die Sprache ihrer Kunst wiederum geht über das Koreanische hinaus. Jeder Gast kann sich dazu seine eigenen Gedanken machen.

Der Spaziergang im Finanzdistrikt Yeouido ist jedenfalls nicht nur wegen der Kreuzung Gukjegeumyung-ro 8-gil/Uisadang-daero unterhaltsam: Zwischen den Wolkenkratzern ruht die stilisierte Version eines Frühlingsbaums. Astronauten grüßen von einem Metallkörper. In einem Beet steht ein Gestänge, in das die Silhouette einer Menschenmenge eingearbeitet ist. In Seoul sollte man eben keine Ecke unterschätzen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusArchitektur
:Wie wollen wir leben?

In der Ostsee plant einer der "Angry-Bird"-Macher eine künstliche Insel für ein Stadtbiotop. Dabei ist nicht mal klar, ob unsere Metropolen die Pandemie überleben werden. Eine Plädoyer, doch einfach mal beides zu denken: Stadt und Land.

Von Gerhard Matzig

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: