Streiks in der Pandemie:Corona-Krise könnte Arbeitskämpfe verschärfen

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In Chemnitz streikten am Sonntag mit Beginn der Nachtschicht Mitarbeiter für höheren Lohn, weil die Beschäftigten im Osten 38 statt 35 Stunden pro Woche arbeiten.

(Foto: Harry Haertel / Imago)

Trotz der Pandemie gab es 2020 etwa so viele Streiks wie zuvor. Angesichts der wirtschaftlichen Turbulenzen rechnet die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung nun sogar mit mehr Verteilungskonflikten.

Von Benedikt Peters, München

Als im vergangenen Frühjahr die Corona-Pandemie heraufzog, da schwante manchem Gewerkschafter Übles. Zu der allgemeinen Sorge, die das unbekannte Virus und die steigenden Infektionszahlen verursachten, kam die Furcht um das eigene Kerngeschäft: Wie, bitteschön, sollte man in Zeiten der Isolation Tarifrunden und Arbeitskämpfe durchfechten? Verhandeln ohne persönlichen Kontakt, Streiken mit Abstand - beides erschien damals kaum möglich. Und so vertagte die größte deutsche Einzelgewerkschaft IG Metall im März 2020 auch prompt ihre Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie und einigte sich mit den Arbeitgebern auf einen Notabschluss.

Es kam dann aber anders als befürchtet. Das zeigen neue Zahlen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Ausweislich der "Arbeitskampfbilanz 2020", die die Stiftung an diesem Dienstag vorgelegt hat, könnte man beinahe schlussfolgern: Das Corona-Jahr 2020 war für die Gewerkschaften ein Jahr wie jedes andere. Die Wissenschaftler des stiftungseigenen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) haben ausgerechnet, dass im vergangenen Jahr in Deutschland etwa 342 000 Tage gestreikt wurde - und damit ähnlich viel wie 2019 (360 000). Schaut man auf die Teilnehmerzahlen, dann liegen sie im Jahr 2020 mit 276 000 sogar leicht höher als zuvor (270 000 Streikende 2019).

Bei genauer Betrachtung zeigt sich allerdings deutlich der Einfluss, den das Coronavirus auf die Arbeitskämpfe hatte. Im Frühjahr, nach Ausbruch der Pandemie, habe es zunächst eine "Streikpause" gegeben, schreiben die Autoren Thorsten Schulten, Heiner Dribbusch und Jim Frindert. Stattdessen hätten die Gewerkschaften bis Anfang Juni eher im Stillen mit den Arbeitgebern verhandelt, etwa über Aufstockungen des Kurzarbeitergeldes oder über Möglichkeiten, wie Jobs trotz der Krise erhalten bleiben können. So war es etwa in der Metallbranche im Frühling 2020.

Danach aber seien die "Interessen- und Verteilungskonflikte" deutlich hervorgetreten, schreiben die Autoren, teilweise sogar verschärft durch die Pandemie. Beispielhaft zeigen lässt sich das an der Tarifrunde für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen im Herbst. Allen voran Pflegekräfte und Mitarbeiter von Gesundheitsämtern forderten damals - orchestriert von den Gewerkschaften Verdi und Deutscher Beamtenbund - höhere Löhne ein. Die Pandemie habe gezeigt, dass sie systemrelevant seien, argumentierten sie. Manch einer wertete ihre Warnstreiks mitten in der Pandemie als fehl am Platz, Umfragen zufolge aber überwog der Zuspruch in der Bevölkerung. Am Ende holten die Gewerkschafter ein kräftiges Lohnplus für die Beschäftigten heraus - nicht trotz, sondern eher wegen des Coronavirus.

Im internationalen Vergleich sind die Deutschen Streikmuffel

Wegen der Abstandsgebote waren die Gewerkschafter gezwungen, neue Streikformate zu ersinnen. Das sei ihnen durchaus gelungen, urteilt die Böckler-Stiftung. Es gab etwa Kundgebungen im Autokinoformat, bei denen die Teilnehmer in ihren Fahrzeugen sitzen blieben, oder Menschenketten mit Absperrbändern. Hinzu kamen viele digitale Warnstreiks, bei denen sich die Teilnehmer in Livestreams einwählten oder per E-Mail-Abwesenheitsassistent demonstrativ die Arbeit niederlegten.

Für das laufende Jahr rechnen die Forscher damit, dass die Arbeitskämpfe noch deutlich zunehmen. Die Frage, wer die Kosten der Pandemie trage, rücke "immer mehr in den Mittelpunkt". Ein Hinweis, dass sie richtigliegen könnten, ist die gerade durchgefochtene Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie. Die IG Metall meldete hier 800 000 Streikende - und damit mehr als bei früheren Runden. In Ostdeutschland dauern die Metaller-Streiks noch an, und bald folgen weitere Tarifverhandlungen für viele Beschäftigte, etwa im Einzelhandel und im öffentlichen Dienst der Länder.

Im internationalen Vergleich allerdings sind die Deutschen eher Streikmuffel. Pro 1000 Beschäftigte fallen im Jahresdurchschnitt in Deutschland 17 Arbeitstage aus. In Kanada sind es 77, in Belgien 98 - und beim Streik-Spitzenreiter Frankreich sogar 110.

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