Viertel-Stunde:Venedig im Westfriedhof

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Symbol für Übergang und Fluss des Lebens: eine der beiden Mosaikwände auf dem Westfriedhof. (Foto: Catherina Hess)

Aus 264 000 kleinen Glassteinen hat der Künstler Christoph Brech Mosaikwände geschaffen, die als Metaphern zu sehen sind

Von Anita Naujokat

Eine der Mosaikwände leuchtet frühmorgens, die zweite in der Abenddämmerung. Die dargestellte Brücke auf beiden symbolisiert den Übergang vom körperlichen zum geistigen Zustand, der Fluss steht für den Lauf des Lebens. Und ihre räumliche Trennung von etwa 150 Metern soll zu einer dritten historischen Metapher führen: der des "Durchgangs". All das ist materialisiert auf den beiden rund sieben Meter langen und etwa 300 Kilogramm schweren Urnenwänden "Il Ponte" des Künstlers Christoph Brech in der 2015 eröffneten Urnenanlage "Mosaikgärten" auf dem Westfriedhof. 246 000 kleine Glassteine, sogenannte Smalten, in mehr als 100 Farben, auf traditionelle Weise handgefertigt in Venedig, haben die Werkstätten Gustav van Treeck dafür und für die beiden Brunnen verarbeitet.

Man wandelt unter knospenden Zieräpfeln auf der zentralen Wegeachse vorbei an mehr als 30 kleinen, mittleren und großen Stelen auf den Grabfeldern, die 13 Steinmetzbetriebe handwerklich aus bayerischen Natursteinen gestaltet haben. Jede für sich ist ein Kunstwerk mit völlig unterschiedlichen Motiven, die mehr als einen Blick wert sind.

Manche weisen Aussparungen auf, ähnlich einem Schlüsselloch, oder wie ein Kreis, durch die der Betrachter ein Stück Himmel oder einen Ast sehen kann. Hier eine Vogelschar im Flug, dort die Kontur einer aus dem Stein herausgemeißelten mittelalterlich anmutenden Stadt. Auch aus schräger Perspektive inspiziert ergeben sie ein schönes Bild, sind alle Muster einer Reihe versetzt auf einmal zu sehen. Eine Schnecke in ihrem rostbraunen Häuschen hat sich an einem der hellen Steine niedergelassen. Kunst, Handwerk und Natur fließen hier zusammen. Auf den Bänken verweilen Menschen, vertieft in ein Buch, eine Zeitschrift. Oder sie wenden ihr Gesicht einfach der Sonne zu. Es zieht einen zurück zu den Mosaikbildern, wo die Spaziergängerin beim Näherkommen plötzlich meint, die Silhouette des Olympiaturms auszumachen. Aber es sind die Streben der sich im Wasser spiegelnden Brücke.

Das Farbenspiel der nordöstlich stehenden Mauer ist derzeit nur mit einigem Abstand durch ein Absperrgitter zu sehen. Dort ist bis August Baustelle. Die Städtischen Friedhöfe München lassen die bisherigen 1600 fast vollständig belegten Bestattungsplätze um 500 weitere erweitern. Berührt, fast schon ein wenig beseelt von diesem Ort, geht es zurück in den Alltag draußen - zur Trambahn.

© SZ vom 30.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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