Berichte von NS-Verfolgten:"Bis 1938 war es noch auszuhalten"

In einer jiddischsprachigen Zeitschrift berichteten Juden nach dem Zweiten Weltkrieg, wie sie die NS-Zeit überlebten. Die Unmittelbarkeit der Schilderungen der Menschen, denen Eltern, Kinder, Geschwister geraubt wurden, sind erschütternd.

Rezension von Hans Holzhaider

Anna Holzmann war eine mutige Frau. 1924 hatte sie den jüdischen Textilhändler Martin Holzmann geheiratet und war zum Judentum übergetreten. Damals konnte sie nicht ahnen, was für bittere Konsequenzen das für sie haben würde. Ihr Mann starb 1934 an Tuberkulose, sie blieb mit ihren beiden Kindern, einer Tochter und einem Sohn allein.

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Exodus 1947 hieß dieses Schiff, das 1947 jüdische Holocaust-Überlebende nach Haifa brachte.

(Foto: AFP)

"Bis 1938 war es noch auszuhalten", schreibt sie, "obwohl wir auch bis dahin bereits verschiedene Beleidigungen zu ertragen hatten. Wirklich schlecht wurde es nach dem 9. November 1938. Eines Tages kam eine Frau zu mir und sagte, dass sie persönlich von Herrn Staatsminister Wagner geschickt worden sei, um meine Wohnung zu übernehmen. Meine Wohnung, erklärte sie, zähle als jüdische Wohnung, und sie wolle sie haben, denn sie gefalle ihr. Ihr Ton reizte mich, und meine Antwort lautete: ,Sagen Sie dem Herrn Staatsminister Wagner persönlich, dass hier ein Fehler vorliegt, die Wohnung wird nicht frei'.

Ein paar Tage später kamen zwei Herren von der Gestapo und führten mich in die Staatskanzlei zu einem gewissen Regierungsrat Horn ab. Er beschimpfte mich in den niederträchtigsten Ausdrücken, weshalb ich so frech zu der Frau gewesen sei. Er befahl mir, meine Wohnung sofort zu verlassen. Ich habe es aber nicht getan, weil ich dachte, dass sie mir einen offiziellen Befehl darüber schicken müssten."

Wunderbarerweise konnte Anna Holzmann in ihrer Wohnung bleiben. Sie wurde noch einige Male vorgeladen und bedrängt, sie möge sich doch vom Judentum lossagen, aber sie weigerte sich. "So lange, wie es den Juden gut gegangen ist, bin ich mit ihnen zusammen gewesen; soll ich mich jetzt, wenn es ihnen schlecht geht, von ihnen abwenden? Das mache ich nicht."

Berichte von NS-Verfolgten: Frank Beer, Markus Roth (Hg.): Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift "Fun letstn churbn" der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946 - 1948. Metropol Verlag, Berlin 2020. 1032 Seiten, 49 Euro.

Frank Beer, Markus Roth (Hg.): Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift "Fun letstn churbn" der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946 - 1948. Metropol Verlag, Berlin 2020. 1032 Seiten, 49 Euro.

Anna Holzmann und ihr Sohn (ihre Tochter konnte sie 1938 noch in die USA schicken) harrten aus, bis ihre Wohnung am 7. Januar 1945 bei einem Bombenangriff zerstört wurde. Danach versteckten sie sich auf einem Bauernhof im Münchner Umland, bis die Amerikaner kamen. "Das einzige, was mich freut", schreibt sie, "ist, dass keiner der Nazis mich erniedrigen konnte, dass keiner von ihnen gemerkt hat, wie ich innerlich gezittert habe. Das ist für mich die größte Genugtuung."

Erst 72 Jahre später sind die Berichte auf Deutsch erschienen

Der Bericht von Anna Holzmann wurde im Mai 1948 in einer in München erscheinenden Zeitschrift abgedruckt, aber lesen konnten ihn damals nicht sehr viele Münchner. Denn die Zeitschrift erschien in jiddischer Sprache. Sie hieß Fun letstn churbn, und wurde herausgegeben von der Zentralen Historischen Kommission beim Zentralkomitee der befreiten Juden in der amerikanischen Besatzungszone.

"Churbn" ist das jiddische Wort für Zerstörung, es ist die jiddische Bezeichnung für das, was man später "Shoah" oder "Holocaust" nannte - den Massenmord an den europäischen Juden. "Fun letstn churbn" heißt also "Von der letzten Zerstörung". Die erste Ausgabe erschien am 1. August 1946, die letzte, die Nummer 10, im Dezember 1948. Einen Monat später löste sich die Kommission auf, und alles, was von der Zeitschrift übrig blieb, wurde nach Israel verschifft und in der Gedenkstätte Yad Vashem aufbewahrt.

Erst jetzt, 72 Jahre später, sind die Texte auch dem deutschen Leser zugänglich. Es sind Berichte, meist von Augenzeugen, von Mordaktionen der SS und der Wehrmacht, ganz überwiegend aus Osteuropa, aus Litauen, Polen, der Ukraine, ergänzt durch eine Sammlung von Liedern, Redewendungen, Sprichwörtern, Witzen und Anekdoten aus den osteuropäischen Ghettos.

Die Initiatoren waren damals getrieben von der Sorge, dass die Siegermächte, geschweige denn die Deutschen selbst, vielleicht kein sehr großes Interesse daran haben könnten, Zeugnisse für das entsetzliche Leiden der Juden unter der Naziherrschaft zu sammeln und zu sichern.

"Es stellte sich heraus, dass unsere Nachbarn nicht nur nicht dazu bereit sind, objektive Informationen, Fakten und Eindrücke mitzuteilen, sondern im Gegenteil sogar bemüht sind, die jüdische Tragödie herunterzuspielen, zu vertuschen und, wo es geht, sie sogar zu verunglimpfen", schreibt Moshe Faygenboym in der ersten Nummer der Zeitschrift. Faygenboym, der selbst nur mit knapper Not dem Tod im Vernichtungslager Treblinka entronnen war, hatte zusammen mit dem Historiker Israel Kaplan aus Kaunas (Litauen) die historische Kommission in München gegründet.

In der amerikanischen Besatzungszone gab es im Sommer 1947 etwa 70 Lager für "Displaced Persons", ehemalige Gefangene aus den Konzentrationslagern und Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus aller Herren Länder, unter ihnen mehr als 180 000 Juden, überwiegend aus den osteuropäischen Ländern. Jeder von ihnen war ein potentieller Zeuge.

"Jude! Berichte von Deinem Überleben"

Mit Plakaten in den DP-Lagern warben Kaplan und Faygenboym darum, Zeugnis abzulegen: "Jude! Erfülle deine Pflicht gegenüber den kommenden Generationen! Berichte von deinem Überleben im Konzentrationslager, im Versteck, über das Leben der Partisanen, so dass deine Kinder den Weg deines Martyriums kennen werden!" 2536 Zeugnistexte wurden so zusammengetragen, Hunderte Lieder und Gedichte, mehr als tausend Fotos und Dokumente. Ziemlich genau hundert dieser Texte sind in den zehn Nummern der Zeitschrift abgedruckt.

Der anfangs zitierte Bericht der mutigen Anna Holzmann nimmt darin eine Sonderstellung ein: Er ist einer der ganz wenigen, der in München spielt, und der nicht von atemberaubenden Grausamkeiten erzählt. Denn so viel man auch über die Untaten der deutschen Mörderbanden im Osten gelesen hat - die Unmittelbarkeit dieser Schilderungen aus dem noch ganz frischen Erleben von Menschen, denen ihre Eltern, Kinder, Geschwister buchstäblich von der Seite gerissen wurden und die ihr eigenes Überleben oft nur absurden Zufällen zu verdanken haben, ist Stoff für Albträume.

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