Tassilo-Kulturpreis:"Nur nicht seicht"

Literarische Gesellschaft Gräfelfing

Für Bücher machen sie sich gerne krumm: Klaus Stadler und Max Gschneidinger (von links), die Impresarios der Literarischen Gesellschaft auf der Bühne im Bürgerhaus Gräfelfing. Der Kulturverein will im Oktober sein 100-jähriges Bestehen feiern.

(Foto: Florian Peljak)

Seit 100 Jahren zieht die "Literarische Gesellschaft Gräfelfing" illustre Kulturgrößen ins Würmtal. Erich Kästner war da, Konrad Lorenz, Elias Canetti oder Joachim Gauck. Den Publikumsrekord hält Gerhard Polt

Von Annette Jäger, Gräfelfing

"Literarische Gesellschaft, "das klingt heute ein bisschen altmodisch." Das räumt Klaus Stadler durchaus ein. Woher der Name kommt, sei nicht klar, vielleicht habe man damals anknüpfen wollen an die Kultur der Salons der 1920er Jahre, in denen Intellektuelle zu Diskussionen, Lesungen und Musikabenden zusammenkamen und das kultivierte Gespräch pflegten, vermutet der Vorsitzende der Gesellschaft. Damals - das war im Oktober 1921, dem Gründungsjahr der Literarischen Gesellschaft. Sie hatte ihren Sitz zu diesem Zeitpunkt noch in Krailling, erst 1938 zog sie nach Gräfelfing und führte den Ort fortan im Namen: "Literarische Gesellschaft Gräfelfing". In diesem Jahr feiert man also das Hundertjährige, und ein Blick ins Programm zeigt: Die Jubilarin ist kein bisschen altmodisch, sondern bewegt sich thematisch am Puls der Zeit.

Gräfelfing war kurz nach dem Ersten Weltkrieg kulturelles Brachland. Die Kommune lag damals, von München aus gesehen, auf dem Land, war von Feldern und Wiesen umgeben, das beliebte Gasthaus "Zum Weißen Rössl" am Bahnhof prägte das Ortsbild. Schon damals lebten viele Akademiker in der Villenkolonie, mit einem großen Hunger nach intellektueller Kost. Das galt genauso für die Nachbargemeinden im Würmtal, Krailling und Planegg. München war weit entfernt, und so schufen sich die 20 Gründungsmitglieder der Literarischen Gesellschaft am 12. Oktober 1921 ein eigenes kulturelles Forum für das Würmtal. Aus der einst geschlossenen Gesellschaft, die ihr Programm damals vor allem aus Vorträgen und Lesungen der eigenen Mitglieder bestritt, wurde ein offener Vortragskreis, der sich an "geistig interessierte Menschen wendet", so definiert die Literarische ihren Anspruch bis heute.

Eine Mischung aus Lesungen und Vorträgen zu Themen aus Geistes- und Naturwissenschaft, Politik, Literatur, Musik, Soziologie und Theologie findet jedes Jahr ins Programm. Mal geht es um Geruchsphysiologie, dann um das Sachbuch "Hitlers Wien" oder darum, wie reiche Länder auf Kosten der armen leben. Das Jahr 1968 steht im Mittelpunkt eines Abends, oder der populäre Astrophysiker Harald Lesch philosophiert über Fragen der Zeit. Anregung geben, Gesprächsstoff liefern und intellektuell herausfordern, das war schon immer die Ambition. Versammlungsort ist der große Saal im Bürgerhaus, der je nach Popularität der Gäste im Durchschnitt mit 100 Besuchern gefüllt ist, manchmal auch mit bis zu 400, dann muss aber schon ein Dieter Dorn auf der Bühne stehen, ein Joachim Gauck oder ein Gerhard Polt. Sie waren alle schon mal da.

Auszüge aus dem Programm der vergangenen zwei Jahre: Der angesagte junge Autor Christoph Poschenrieder stellt seinen neuen Roman vor, Sybil Gräfin Schönfeldt präsentiert im elften Jahr in Folge ihre persönlichen Favoriten-Buchtitel des Jahres, einer der populärsten Kirchenmänner Bayerns, Pfarrer Rainer Maria Schießler, fragt, wohin die Kirche treibt, die Publizistin Gunna Wendt spricht über Erika Mann und Therese Giehse, der Schauspieler Burghart Klaußner stellt seinen Debütroman vor. Sucht man nach dem Alleinstellungsmerkmal, das die Gesellschaft von vielen anderen Literatur- und Vortragskreisen abhebt, bleibt man an der Gästeliste hängen: In den vergangenen 100 Jahren ist es der Gräfelfinger Gesellschaft gelungen, etliche, die einen Namen haben in der Literatur- und Kulturszene, in der Geistes- und Naturwissenschaft und im öffentlichen Leben, ins Würmtal einzuladen. Erich Kästner war da, Konrad Lorenz und Eugen Roth, Luise Rinser, ebenso Elias Canetti, Martin Walser, Eva Menasse, auch Hans-Jochen Vogel und Abt Odilo Lechner, Heiner Geißler oder der Philosoph Peter Sloterdijk. Die Liste lässt sich schier endlos fortsetzen.

Dahinter stehen zwei Namen: Wolfgang Pollner und Klaus Stadler. Pollner, früherer Inhaber der örtlichen Buchhandlung, hat die Literarische Gesellschaft 36 Jahre lang als Vorsitzender geprägt. Seine Kontakte als Buchhändler in die Verlagsszene waren das größte Kapital der Literarischen, wie die Gräfelfinger ihre einzige Gesellschaft nennen. Und wenn erst mal der ein oder andere große Name seinen Weg nach Gräfelfing gefunden hat, fungiert er quasi als Lockmittel, um andere herzulotsen. Die Gästeliste ist zum Selbstläufer geworden. Als Klaus Stadler 2009 den Vorsitz übernahm, setzte er die Tradition fort: Stadler war Wissenschafts- und Sachbuchlektor beim Piper-Verlag in München und konnte ebenso wie Pollner seine Kontakte in die Szene nutzen, um Jahr für Jahr, bis heute, mit seinem Vorstandskollegen Max Gschneidinger ein hochkarätiges Programm zu gestalten. Die Gäste erhalten alle ein Honorar, nicht übermäßig viel, aber es scheint das Interesse an einem Auftritt eher zu fördern. Die Gemeinde sei dank der Literarischen Gesellschaft zu einem Kulturzentrum geworden, sagt ein Gräfelfinger über die Institution und hat sie als würdigen Tassilo-Kandidaten vorgeschlagen. Viele würden ihm zustimmen.

Programm rund um die Belletristik sei heute nicht mehr am erfolgreichsten, ist Stadlers Erfahrung. Dafür kommt niveauvolle Unterhaltung umso besser an. Gerhard Polt war in 100 Jahren der Gast, der mit 400 Zuschauern die meisten Besucher anzog. Unvergessen ist auch der Auftritt von Jan Weiler, der das ergraute Gräfelfinger Publikum zum Einstieg mit einer pikanten Bettszene aus seinem Roman "Kühn hat Ärger" herausforderte. "Nur nicht seicht" - das ist die rote Linie in der Programmgestaltung, sagt Stadler. Würde ein Josef Ganghofer heute noch leben, würde er vielleicht nicht nach Gräfelfing eingeladen werden, vermutet er.

An Gästen mangelt es nicht, an der Leidenschaft, Jahr für Jahr ein Programm zusammenzustellen, auch nicht. Sogar die Mitgliederzahl der Literarischen mit rund 430 ist respektabel. Und doch gibt es Zukunftsängste. Denn was fehle, sei der Nachwuchs, sagt Stadler. Wenn die Literarische so vor sich hinaltere, wie sie es jetzt gerade tue, dann dürften in wenigen Jahren nur noch 80- und 90-Jährige im Publikum sitzen, hat sich der Vorsitzende ausgerechnet. Und auch er selbst wird mit seinen 75 Jahren nicht mehr ewig die Rolle des Programmdirektors zusammen mit Max Gschneidinger übernehmen. "Das Problem liegt mir im Magen." Und drum geht der Aufruf zum 100. Geburtstag an die Jüngeren: "Wer Lust hat, soll sich melden." Ob die Pandemie ein persönliches Kennenlernen zum Jubiläum im Oktober zulässt, ist fraglich, "sonst feiern wir halt den 101.", bleibt Klaus Stadler gelassen. Da gibt es die Literarische auf jeden Fall noch.

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