Zeichen setzen:Man kann einfach gehen

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Der Antisemitismus hat Methode, auch bei den Demonstrationen der Münchner Anti-Corona-Szene. Niemand ist gezwungen, gelbe Sterne mit der Aufschrift "Ungeimpft" zu tolerieren.

Kommentar von Martin Bernstein

Nein, sie sind nicht das Volk, die da seit mehr als einem Jahr in München und anderswo auf die Straße gehen. Sie sind eine Minderheit, gleichwohl: eine lautstarke. Doch die Sorge sollte nicht allein den Rechtsextremisten und Verschwörungsideologen gelten, die darunter sind, nicht nur den Reichsbürgern und Demokratieverächtern.

Sondern denen, die sich in der Mehrheit wähnen, den besorgten Bürgern - besorgt um sich selbst, um ihre Freiheitsrechte, um die Zukunft ihrer Kinder und um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Warum, so müssen sie sich fragen lassen, ist es ihnen offenbar egal, wenn unter ihren Augen, in ihrem Namen und unter ihrem Applaus versteckter und offener Judenhass propagiert werden?

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Es sind keine Einzelfälle, keine bedauerlichen oder verurteilenswerten Ausrutscher, keine "Kollateralschäden". Der Antisemitismus hat Methode. Er ist der Kitt, der die Szene aus Pandemieleugnern und Verfassungsfeinden zusammenhält. Welche Rolle judenfeindliche Narrative beim Protest gegen Infektionsschutzmaßnahmen spielen, kann jeder ganz einfach selbst überprüfen.

Ein Blick auf Demo-Plakate, ein beliebiges Scrollen durch die wichtigsten Telegram-Gruppen der Münchner Anti-Corona-Szene genügen: Die Juden sind in dieser wirren Weltsicht an nahezu allem schuld - an der Pandemie und an den Impfungen dagegen. Und daran, dass Corona nur eine Erfindung zur Abschaffung der Freiheit sein soll. Das alles können Münchnerinnen und Münchner lesen, wenn sie den Termin für die nächste Kundgebung suchen. Unkommentiert, ungelöscht bleibt die antisemitische Hetze einfach so stehen. Weil sie niemanden stört? Weil man sie glaubt?

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Gelbe Sterne mit der Aufschrift "Ungeimpft" und der zynische Spruch "Impfen macht frei" waren und sind auch in München zu sehen. Wer so etwas trägt, aber auch, wer so etwas neben sich duldet, verhöhnt die Überlebenden des Nazi-Terrors. Und das soll dann keine Volksverhetzung sein? Doch niemand ist gezwungen, auf juristische Entscheidungen oder gar auf den Gesetzgeber zu warten. Wer nicht will, dass sein eigenes Anliegen - und das Gedenken an Millionen Tote - durch derartige Sprüche besudelt wird, dem steht ein einfaches Mittel zur Verfügung. Noch nicht einmal den Mund aufmachen muss man dazu. Man kann einfach gehen.

Wenn die Judenhasser innerhalb der Querdenker-Szene nur eine so kleine Minderheit sind, wie immer wieder behauptet wird, dann dürfte man ja nicht allzu oft zu diesem Schritt gezwungen sein. Dann blieben die offenen und die heimlichen Antisemiten alleine im Regen stehen. Aber vielleicht würde man dann erst recht erschrecken. Darüber, wie viele da stehen.

© SZ vom 12.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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