Nahostkonflikt:Die Hamas versucht, Israels Raketenabwehr zu überwältigen

In massiven Salven feuern die radikalen Palästinenser Hunderte Raketen auf israelisches Gebiet - einige dringen durch. Die israelische Armee setzt auf Luftangriffe, um die militante Gruppe auf Dauer zu schwächen.

Von Paul-Anton Krüger

Leuchtende Feuerschweife erhellen die stockfinstere Nacht im Gazastreifen. Im Sekundentakt feuern Kämpfer der Hamas Raketen auf Israel. Ihr Ziel am Dienstagabend: der Großraum Tel Aviv. Mehr als 130 Raketen haben die radikalen Islamisten nach eigenen Angaben binnen weniger Minuten abgefeuert; Videos davon verbreiten sich auf sozialen Medien. Sechsmal in 30 Minuten heulen in der Mittelmeermetropole die Sirenen, Luftalarm für 2,5 Millionen Menschen, die in Israels größtem Ballungsraum leben.

Mehr als 1050 Raketen binnen 38 Stunden hat die israelische Armee gezählt. Sie kommen in massiven Salven. Im gesamten Gaza-Krieg 2014 und den vorangegangenen Wochen waren es etwa 4500 - in mehr als 50 Tagen. Das zeigt die Eskalation des Beschusses aus dem Palästinensergebiet. Die Hamas versucht auf diese Weise offenbar, die Kapazität der israelischen Raketenabwehr zu überwältigen - dass dabei vor allem zivile Ziele getroffen werden, ist Teil der Strategie der im Westen als Terrororganisation eingestuften Gruppe.

Das Iron Dome genannte System kann zwar etliche Ziele gleichzeitig erfassen und mit seinen Abwehrraketen abfangen. Auch feuert es nicht auf anfliegende Raketen, die der berechneten Flugbahn nach in unbewohntem Gebiet niedergehen. 200 davon schlugen im Gazastreifen ein - den Großteil der 850 anderen machte Iron Dome unschädlich. Aber je mehr Raketen im Himmel sind, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass einige den Schirm durchdringen.

"Obwohl Raketenabwehr und die ballistischen Raketen der Gegenseite seit Jahren eine Säule meiner täglichen Arbeit sind - DAS ist etwas, von dem ich nie gedacht hätte, es zu sehen", twitterte der israelische Militärexperte Tal Inbar zu Videoaufnahmen der Abfangraketen über Tel Aviv.

Einige Raketen schlugen in Israel ein - mehrere Menschen starben

Was in Israel Sorge auslösen und von anderen Feinden des Landes wie Iran und der Hisbollah genau beobachtet worden sein dürfte: Etliche Raketen haben die Abwehrsysteme überwunden. In Aschkelon starben zwei Frauen bei direkten Treffern auf ihre Wohnhäuser, eine weitere Frau wurde beim Einschlag einer Rakete in einem Vorort von Tel Aviv getötet. Zwei Tote gab es in der Nacht in Lod, als eine Rakete ein Auto traf.

Und es hätte noch deutlich schlimmer ausgehen können: Ein Öltank an der Pipeline auf dem Gelände einer Raffinerie bei Aschkelon ging nach einem Treffer in einen Feuerball auf, eine Schule wurde ebenfalls getroffen. Den Unterricht hatte die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu als Vorsichtsmaßnahme ausfallen lassen, das Gebäude war leer. Nahe Tel Aviv brannte ein Bus nach einem Raketentreffer komplett aus - er war zum Glück leer.

Israel unter Raketenbeschuss

Auch auf dem Gelände einer Raffinerie bei Aschkelon schlägt eine Rakete der Hamas ein.

(Foto: Jack Guez/AFP)

Die Hamas hatte in den vergangenen Tagen Propagandavideos von Mehrfach-Raketenwerfern verbreitet. Diese können acht der offenbar neuen A-120-Raketen mit einer angeblichen Reichweite von 120 Kilometern jeweils in sehr schneller Folge abfeuern. Und der israelische Luftwaffe ist es trotz Hunderter Angriffe auf Ziele im Gazastreifen bislang offenbar nicht gelungen, die Stellungen auszuschalten.

Hinzu kommt: Die von Iran kontrollierte Schiiten-Miliz Hisbollah hat im Libanon Zehntausende Raketen gehortet, nach israelischen Schätzungen alleine ein Arsenal von 120 000 bis 140 000 mit Reichweiten bis zu 50 Kilometern, die Haifa erreichen können, und mehrere Tausend, die den Großraum Tel Aviv bedrohen. Iran versucht auch systematisch, Raketen der Revolutionsgarden in Syrien zu stationieren und dort Produktionsstätten aufzubauen - was Israel mit regelmäßigen Luftangriffen in dem Nachbarland unterbinden will.

In Gaza City brachte die israelische Armee zwei Hochhäuser zum Einsturz

Israel antwortete mit massiven Luftangriffen auf den Beschuss aus dem Gazastreifen. Mit diesen sollen offenbar die militärischen Strukturen der Hamas zerstört werden - doch nach palästinensischen Angaben fielen ihnen ebenfalls Zivilisten zum Opfer. Verteidigungsminister Benny Gantz kündigte an, die Armee werde "dauerhaft und vollständig" die Ruhe und Sicherheit der israelischen Bevölkerung wiederherstellen. Die Armee teilte mit, sie habe bei Luftangriffen den Chef des Militärgeheimdienstes der militanten Gruppen sowie dessen Stellvertreter getötet. Am Nachmittag bestätigte die Hamas zudem den Tod des wichtigsten Kommandeurs der Qassam-Brigaden, ihrer militärischen Organisation, sowie weiterer hochrangiger Kämpfer.

Die israelische Luftwaffe brachte zudem zwei Hochhäuser durch Raketenbeschuss zum Einsturz, in denen sich auch Wohnungen befunden haben sollen. Den Angriffen schickte die Armee Warnungen voraus, in denen die Bewohner aufgefordert wurden, die Gebäude zu verlassen. Dem israelischen Militär zufolge unterhielt die politische Führung der Hamas dort Büros. Nach palästinensischen Angaben wurden bis Dienstagmittag 43 Menschen durch israelische Angriffe getötet, unter ihnen 13 Minderjährige.

Gaza City nach israelischem Raketenbeschuss

Von Israels Armee in Schutt und Asche gelegt: Ein Gebäude in Gaza City.

(Foto: Majdi Fathi/Imago Images/NurPhoto)

Der Gazastreifen ist extrem dicht besiedelt. Die Hamas hat in der Vergangenheit immer wieder militärische Einrichtungen in zivilen Gebäuden versteckt oder etwa vom Gelände von Schulen aus Raketen abgefeuert. Israel wirft ihr vor, Zivilisten als Schutzschilde zu missbrauchen. Menschenrechtler haben aber in früheren Auseinandersetzungen auch immer wieder den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt durch die israelische Armee kritisiert, ihr den Bruch des Völkerrechts vorgeworfen - ebenso wie der Hamas und dem verbündeten Palästinensischen Islamischen Dschihad.

Eskalation der Gewalt auch in Israel

Zu einer besorgniserregenden Eskalation der Gewalt kam es indes auch in Israel: In der Stadt Lod lieferten sich israelische Araber und jüdische Israelis schwere Auseinandersetzungen, bei denen zwölf Menschen verletzt wurden. Der Bürgermeister der Stadt sprach im Fernsehen von einem Kontrollverlust und forderte die Regierung auf, Armeeeinheiten zu schicken, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Premier Netanjahu verhängte den Notstand über die Stadt und beorderte in Absprache mit Verteidigungsminister Gantz Grenzschutzeinheiten aus dem Westjordanland nach Lod.

Netanjahu kündigte ein hartes Vorgehen gegen Gesetzesbrecher an. Nach Polizeiangaben von Mittwoch wurden bei Unruhen in Israel landesweit 151 Personen festgenommen. Es kam zu Schäden an Gebäuden und Fahrzeugen, darunter an mehreren Synagogen und einem muslimischen Friedhof.

Der führende arabische Abgeordnete der Knesset und Chef der konservativen Raam-Partei, Mansour Abbas, rief zu einem Ende der Gewalt auf. "Die Proteste in der arabischen Gesellschaft bewegen sich in eine sehr gefährliche Richtung, nachdem Volksproteste in Gewalt eskaliert sind", sagte er laut Haaretz. Etwa ein Fünftel der israelischen Bevölkerung von ungefähr neun Millionen Einwohnern sind Araber, überwiegend Muslime, in geringerer Zahl Christen.

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