Krebsvorsorge in der Pandemie:Bösartige Corona-Folgen

Weltkrebstag - Krebskrankheiten

Mit Hilfe der Magnetresonanztomographie wird hier ein Tumor festgestellt.

(Foto: dpa)

In der Pandemie gehen wesentlich weniger Menschen zur Krebsvorsorge. Mediziner warnen vor verheerenden Folgen: Tumorerkrankungen werden nun zu spät entdeckt, Heilungschancen sinken.

Von Dietrich Mittler

Für Menschen mit Tumor-Erkrankungen wird die Corona-Pandemie zunehmend zur Gefahr, selbst wenn sie sich gar nicht mit dem Erreger Sars-CoV-2 infizieren. Wie aus einer neuen Untersuchung der Krankenkasse DAK hervorgeht, hat die Pandemie in Bayern zu einem deutlichen Rückgang der Krebsvorsorge geführt. "Von Januar bis September 2020 wurden in bayerischen Arztpraxen im Vergleich zum Vorjahr rund 17 Prozent weniger Krebs-Screenings durchgeführt", sagte Sophie Schwab, die Landeschefin der DAK-Gesundheit in Bayern. Bei Hautkrebs-Untersuchungen war der Rückgang im Freistaat demnach mit 27 Prozent besonders stark. "Mammografie-Screenings sanken um 16 Prozent, Prostata-Screenings und Darmkrebs-Untersuchungen jeweils um elf Prozent", betonte Schwab mit Bezug auf eine Sonderanalyse von Abrechnungsdaten aus den Jahren 2019 und 2020.

Insbesondere im Frühjahrs-Lockdown 2020 sei die Nutzung der Krebsvorsorge stark zurückgegangen. Nach Angaben der DAK-Landeschefin wurden im zweiten Quartal 2020 im Vergleich zum Vorjahr bayernweit betrachtet sogar 30 Prozent weniger Screenings realisiert. Das habe sich in diesem Zeitraum insbesondere stark auf die Mammografie-Screenings (44 Prozent weniger) ausgewirkt, durch die Brustkrebs-Erkrankungen möglichst frühzeitig erkannt werden sollen. Doch auch bei den Hautkrebs-Untersuchungen (34 Prozent weniger), bei der Darmkrebs-Vorsorge (23 Prozent weniger) und bei den Prostata-Screenings (20 Prozent weniger) sei während dieser Phase die Entwicklung "alarmierend" gewesen.

Nach dem Frühjahrs-Lockdown waren zwar Nachholeffekte festzustellen, doch Fakt ist: Die Vorsorge-Untersuchungen sind pandemiebedingt weniger geworden.

Für Krebsmediziner ist das ein besorgniserregendes Szenario. "Die Langzeitfolgen für Krebspatienten, die heute nicht rechtzeitig diagnostiziert und behandelt werden können, sind noch gar nicht absehbar", warnt etwa Michael Baumann, der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Krebsforschungszentrums. Und das bleibe nicht folgenlos: "Wir werden zukünftig mit vielen Patienten konfrontiert werden, deren Krebserkrankung zu spät entdeckt wurde und deren Heilungschancen dadurch verringert sind."

"Aus Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19 haben viele Patientinnen und Patienten den Praxisbesuch vermieden", vermuten DAK-Experten. Gefährdet ist durch die Pandemie aber nicht nur die frühzeitige Erkennung von Karzinomen, auch deren operative Entfernung gestaltet sich durch die nach wie vor hohe Belegung von Intensivbetten schwierig. Martin Hartlieb, 44 Jahre alt, Diagnose Tumor im Kopf, bekam von seinen Ärzten zu hören: "Wir machen jetzt nur lebensbedrohliche Sachen." Also OPs, die sich gar nicht mehr aufschieben lassen. "Die im Krankenhaus können ja auch nichts dafür, die kommen selbst auf dem Zahnfleisch daher", sagt Hartlieb (Name geändert). Er lebt im südbayerischen Raum, hat Karriere gemacht - und doch, seit 2016 merkte er, dass irgendetwas mit ihm nicht mehr stimmte: oft abgeschlafft, starke Kopfschmerzen, bisweilen stark nachlassende Sehkraft.

Schließlich reichte es ihm, immer nur zu hören, dass das vermutlich alles psychische Ursachen habe. Hartlieb bestand auf eine Kernspintomografie. Seit 2. Februar dieses Jahres weiß er: In seinem Kopf wächst ein Tumor, ein Meningeom. Circa 85 Prozent aller Meningeome sind gutartig. Acht bis zehn Prozent sind atypisch, können also etwas schneller wachsen und kehren oft auch nach erfolgreicher Operation wieder. Bösartig sind je nach Expertenmeinung zwei bis fünf Prozent der Meningeome. Ob Hartliebs Meningeom gutartig oder bösartig ist, das wird erst die OP ergeben. Voraussichtlich wird er nun am 8. Juni operiert. "Aber der Termin ist nicht verbindlich", bekam er zu hören. "Man kann nicht in Worte fassen, was das psychisch mit einem anstellt", sagt er.

"Wir haben diese Problematik bereits erkannt und arbeiten intensiv daran, dass die Folgen der Corona-Pandemie in diesem Zusammenhang möglichst gedämpft werden können", sagt Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Sein erklärtes Ziel sei, "dass die Corona-Pandemie nicht indirekt noch mehr Menschen als ohnehin schon gesundheitlich oder psychisch belastet". Die derzeitige Entwicklung der Corona-Zahlen gebe Grund zur Hoffnung, "dass immer mehr Kapazitäten für Operationen bei anderen Krankheiten zur Verfügung stehen". Zudem setze er darauf, dass wieder mehr Menschen zu den Vorsorge-Untersuchungen gehen - "auch wegen der zunehmenden Zahl an Geimpften".

"Seit Jahren wird unser Gesundheitssystem an die Wand gefahren"

Olaf Ortmann, Direktor der Regensburger Universitäts-Frauenklinik am Caritas-Krankenhaus St. Josef und Vorstandsmitglied der Deutschen Krebsgesellschaft, schwankt zwischen Zuversicht und der Notwendigkeit, auf die Risiken hinzuweisen. Es gebe durchaus Hinweise auf eine Verschlechterung der Heilungswahrscheinlichkeit, zum Beispiel beim Darmkrebs. Und ob nun so rasch wieder Intensivbetten freiwerden, sei auch nicht sicher: Zwar seien die Inzidenzwerte rückläufig, doch in dieser dritten Corona-Welle gebe es mehr jüngere Patienten, die länger beatmet werden müssten als Patienten in der ersten Welle. "Das kann auch an der jetzigen Virusmutante liegen", sagt Ortmann. Was die Behandlung von Krebspatienten betreffe, betont er: "Man muss natürlich davor warnen, das System so stark zu belasten, dass Tumorpatienten nicht mehr adäquat behandelt werden können. Aber ich würde es jetzt auch nicht ganz schwarzmalen."

Ortmanns Kollegen greifen zu drastischeren Worten. "Seit Beginn der Pandemie haben wir mit Einschränkungen in der Versorgung zu kämpfen, aber noch nie haben diese sich so einschneidend entwickelt wie in der jetzigen dritten Welle", warnte Carsten Bokemeyer, der Sprecher des Netzwerks der Comprehensive Cancer Center in Deutschland. Gerd Nettekoven, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krebshilfe, sagte: "Wir haben Zweifel, ob wirklich allen politisch Verantwortlichen bewusst ist, dass die bundesweit 1400 Menschen, die jeden Tag die Diagnose Krebs erhalten, auch zeitnah entsprechend versorgt werden müssen."

Aus Sicht von Tumor-Patient Martin Hartlieb ist die aktuelle Situation längst nicht nur eine Folge von Corona. "Seit Jahren wird unser Gesundheitssystem an die Wand gefahren", sagt er.

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