Gerhard Richters Zeichnungen in der Pinakothek der Moderne:Dolchstiche und Liebkosungen

Pressebild zur Ausstellung "GERHARD RICHTER 54 Zeichnungen · 3 Graue Spiegel · 1 Kugel" AUSSTELLUNG DER STAATLICHEN GRAPHISCHEN SAMMLUNG in der Pinakothek
der Moderne: Gerhard Richters zeichnerisches Spätwerk. 14. Mai bis 6. Juni 2021 - CREDIT BEACHTEN!

Wenn der Maler Gerhard Richter jetzt zum Bleistift greift, führen die Linien auf Papier fast ein Eigenleben: "Gerhard Richter. 15.4.2020, recto" (2020).

(Foto: Gerhard Richter 2021 (08022021))

Gerhard Richter hat im vergangenen Jahr intensiv gezeichnet. Eine Schau in München zeigt den bedeutendsten Maler der Gegenwart als immer noch experimentierfreudigen Künstler.

Von Gottfried Knapp

In den Räumen, die der Staatlichen Graphischen Sammlung in der Pinakothek der Moderne in München zur Verfügung stehen, ist derzeit nachzuerleben, wie einer der wichtigsten Künstler der Gegenwart seinem in zahllosen Großausstellungen gefeierten Oeuvre im Jahr 2020 einen fast intim wirkenden Werkkomplex hinzugefügt hat. Gerhard Richter hat sich im Alter ganz der Zeichnung verschrieben. Er, der als Maler mit systematischen Stilbrüchen, mit wechselweise fotografisch-gegenständlichen, monochrom abstrakten und farbdynamisch-expressiven Leinwandbildern die darstellerischen Möglichkeiten der Malerei wie kein anderer ausgelotet hat, er findet zum deutlich kleineren Format zurück. Aber da er die auf dem Papier zur Verfügung stehende Fläche mit der gleichen technischen Experimentierlust bearbeitet, bekommt das Geschehen auf den Blättern eine vibrierende Dichte, wie sie im größeren Format kaum möglich wäre.

Statt mit Ölfarben, Pinseln, Bürsten und Rakeln arbeitet Richter nun mit den Gerätschaften des Zeichners, mit Ölkreiden und Farbstiften, mit Tusche und Feder, mit Bleistiften unterschiedlicher Härtegrade, mit Lineal und Radiergummi. Was er früher einmal über das kleine Format gesagt hat, wirkt angesichts der Zeichnungen wie ein Bekenntnis: "Die kleinen Abstrakten Bilder waren (...) eine Erholung, eine Art Altersleichtsinn - ich muss nichts mehr beweisen , ich darf mich etwas gehen lassen. Nicht unkontrolliert, aber nicht mit einem so ausgesprochenen Willen oder einem Ziel." Dieses kontrollierte Sich-gehen-lassen auf beschränkter Fläche beschert uns visuelle Abenteuer, die sich vorschnellen Deutungen geschickt entziehen. Am nächsten kommt man den manchmal fast haptisch präsenten Strukturen nicht in der Ausstellung, wo die Blätter hinter Glas versteckt sind, sondern im brillant gedruckten Katalog, in dem alle Zeichnungen in Originalgröße abgebildet sind und schon beim Aufschlagen der Seite direkt ins Auge springen.

Pressebild zur Ausstellung "GERHARD RICHTER 54 Zeichnungen · 3 Graue Spiegel · 1 Kugel" AUSSTELLUNG DER STAATLICHEN GRAPHISCHEN SAMMLUNG in der Pinakothek
der Moderne: Gerhard Richters zeichnerisches Spätwerk. 14. Mai bis 6. Juni 2021 - CREDIT BEACHTEN!

Das Blatt ist auf beiden Seiten bearbeitet: "Gerhard Richter. 15.4.2020, verso" (2020) zeigt die Rückseite der grünen Abstraktion.

(Foto: Gerhard Richter 2021 (08022021))

Auf vielen Blättern zieht Richter mit Farbkreiden andeutende Striche durch sandig gepunktete oder geriffelte Farbflächen, die er in Abreibetechnik über rauen Unterlagen erzeugt hat. Mal wischt er mit bloßem Finger über die improvisierten Schichten, mal streicht er ein Lösungsmittel so über das Geschehen, dass Partien auf dem Blatt sanft verblassen. Er spült also auch mal Feuchtes in die flockig trockene Atmosphäre und lässt so zwei Elemente aufeinanderprallen, die sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken.

Die Linien dürfen frei durch Farbnebel delirieren

Den prägnantesten Kontrapunkt im zeichnerischen Geschiebe bilden aber die ganz unterschiedlich markanten Linien und Striche. Einige von ihnen wurden mit spitzer Nadel aus dem Papier herausgeritzt; sie zucken wie Lichtblitze durch die Komposition. Andere ziehen mit ihren Knicken den Blick in die Tiefe der Komposition oder suggerieren mit perspektivischen Andeutungen Umrisse von Gebäuden oder Gegenständen. Die meisten aber delirieren frei durch die Farbnebel.

Vergleicht man die grafischen Techniken, die auf den 54 Blättern kombiniert wurden, mit den Entstehungsdaten, kann man drei Werkgruppen unterscheiden, die quasi zyklisch in direkt aufeinander folgenden Tagen entstanden sind. In der größten Gruppe hat Richter die fast beiläufig aufs Papier geriebenen Kreidefarben durch zeichnerische Bewegungen ganz unterschiedlicher Aggressivität in Spannung versetzt. Einige der hinzugefügten Linien wirken wie zärtliche Liebkosungen, andere stechen wie Dolche zu.

Eine ganz andere Welt tut sich in den Tusche-Zeichnungen auf. Kleckse aus schwarzer Tusche werden auf dem Papier mit einem Lösungsmittel so verdünnt und in Fluss gebracht, dass sie eine malerisch ins Grau hinübermutierende Pfütze bilden, die sich in unterschiedlicher Deutlichkeit auf der Vorder- wie auf der Rückseite des Blattes abzeichnet. Auf die so entstehenden molluskenhaft weichen Gebilde reagiert Richter mit harten Linien, mit spitzer Feder, Tusche und Lineal. Da in der Ausstellung nur eine der beiden individuell ausgearbeiteten Seiten gezeigt werden könnte, sind dort Faksimiles beider Seiten nebeneinandergehängt. Sie zeigen, welch eine überraschende Fülle an Charaktervarianten Richter dem gesteuerten Zufall abgewinnt.

Pressebild zur Ausstellung "GERHARD RICHTER 54 Zeichnungen · 3 Graue Spiegel · 1 Kugel" AUSSTELLUNG DER STAATLICHEN GRAPHISCHEN SAMMLUNG in der Pinakothek
der Moderne: Gerhard Richters zeichnerisches Spätwerk. 14. Mai bis 6. Juni 2021 - CREDIT BEACHTEN!

"Gerhard Richter. 21.2.2020" (2020) strahlt in fast beiläufig aufs Papier geriebenen Kreidefarben, die zeichnerische Bewegung versetzt solche Blätter in Spannung.

(Foto: Gerhard Richter 2021 (08022021))

Fast noch verblüffender sind die ebenfalls im April letzten Jahres entstandenen reinen Bleistiftzeichnungen. Da kombiniert Richter atmosphärisch feinste Schummerungen mit abgeriebenen Fleckenmustern und mit Strichen, die sich als Kontrapunkte frei durch den Bildraum bewegen. Zum Staunen laden aber vor allem die verspielten Strukturen und kalligrafischen Motive in makellosem Weiß ein, die Richter mit millimeterdünn zugespitzten Radiergummis aus dem grauschwarzen Bleistiftkosmos herausradiert.

Jeder Spiegel wird in der richtigen Umgebung zum Tafelbild

Der Titel "Gerhard Richter. 54 Zeichnungen. 3 Graue Spiegel. 1 Kugel" deutet an, dass in der Ausstellung ein weiteres Thema angeschnitten wird. Schon in einigen früheren Ausstellungen hat Richter mit großen Spiegeln, die wie Bilder an der Wand hängen und einfangen, was sich im Galerieraum vor ihnen bewegt, seine systematischen Erkundungen zum Thema Bild exemplarisch erweitert. Er macht klar: Jeder Spiegel wird zum Tafelbild, wenn er in einer entsprechenden Umgebung hängt. Das führen auch die drei grauen Spiegel vor, die in München an den Stirnwänden der beiden Graphikräume hängen. Was immer in den grauschimmernden Rechtecken sich spiegelt, formiert sich zum Bild, egal ob eine Einzelperson, mehrere Figuren oder der leere Raum zu sehen sind. Der Betrachter legt durch seine Bewegungen vor dem Spiegel das Motiv fest und bestimmt den Ausschnitt: In kürzester Zeit kann er vom Selbstporträt zum Gruppenbild und zur Raumansicht überwechseln.

Gerhard Richters Zeichnungen in der Pinakothek der Moderne: Gerhard Richter hat mehrmals verkündet, dass er mit dem Malen aufgehört hat. Dafür arbeitet er jetzt mit Bleistift und farbiger Tusche. In der Münchner Pinakothek der Moderne werden 54 seiner Blätter ausgestellt.

Gerhard Richter hat mehrmals verkündet, dass er mit dem Malen aufgehört hat. Dafür arbeitet er jetzt mit Bleistift und farbiger Tusche. In der Münchner Pinakothek der Moderne werden 54 seiner Blätter ausgestellt.

(Foto: Markus Schreiber/AP)

Die Filme, die auf den Spiegeln ablaufen, machen aber auch bewusst, dass Geschehnisse erst dann als Bilder wahrgenommen werden, wenn sie durch eine Rechteckform begrenzt sind. Auf die Zeichnungen bezogen, heißt das: Erst durch die Ränder der Blätter werden die abstrakten Figurationen, die an vielen Stellen dynamisch nach außen drängen, zusammengefasst und zu Bildern verdichtet. Spiegel und Zeichnungen antworten in den beiden Ausstellungsräumen also quasi schmunzelnd aufeinander.

In dem Raum aber, der eigentlich für die Präsentation von Graphik geschaffen worden ist, im Vitrinengang, triumphiert derzeit der Spiegeleffekt ganz allein. Gerhard Richter hat bestimmt, dass die zwölf Vitrinen, die in die Seitenwände des Gangs eingefügt sind, leer bleiben. Nur eine polierte Edelstahlkugel von 16 Zentimetern Durchmesser, die selber wie ein Spiegel wirkt und beim Betrachten Bilder liefert, liegt halb versteckt am Boden einer der Vitrinen. Durch das Fehlen aller übrigen Exponate werden die mit Licht gefüllten Vitrinen, die von schwarzen Stahlrahmen gefasst sind, im dunklen Gang selber zu Bildern. Ja, in ihren Glasscheiben spiegeln sich die gegenüberliegenden leeren Vitrinen fast lebendiger als reale Ausstellungsstücke. Man glaubt, wenn man sich der Illusion hingibt, die von den Spiegelungen erzeugt wird, monochrom weiße Bilder an den Rückwänden hängen zu sehen.

Gerhard Richter, der Bilderdenker, lenkt also in dieser Ausstellung unsere Blicke nicht nur auf einen eben entstandenen eigenen Werkkomplex, sondern darüber hinaus auf Erscheinungsformen von Bildern, über die wir zuvor nie nachgedacht haben.

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