Pipers Welt:Klassenkampf

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Die Begriffe von Marx und Engels sind wieder modern. Mit der heutigen Wirklichkeit haben sie nichts zu tun.

Von Nikolaus Piper

Gegen das Kommunistische Manifest kann man sagen was man will, sprachlich ist der Text von Karl Marx und Friedrich Engels aus dem Jahr 1848 genial. "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen" - der Satz zündet auch heute noch, obwohl er sich längst als falsch erwiesen hat. Eigentlich schien in der Sozialen Markwirtschaft die Theorie obsolet zu sein, wonach sich die Gesellschaft in zwei große feindliche Klassen spaltet: "Bourgeoisie und Proletariat". Westdeutschland war eher eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", ein Begriff, den der Soziologe Helmut Schelsky 1953 prägte. Im Wirtschaftswunder wurden aus Klassenfeinden Sozialpartner, die Gewerkschaften trugen den Staat mit und die SPD verabschiedete sich mit dem Godesberger Programm vom Klassenkampf.

Ende der 1960er Jahre jedoch wurden die Kinder des Wirtschaftswunders erwachsen. Sie fanden Schelsky reaktionär und lasen stattdessen "Der eindimensionale Mensch" von Herbert Marcuse, dem 1933 in die USA emigrierten deutschen Philosophen. Von dem lernten sie, dass es Klassen sehr wohl noch gebe, dass sich die Arbeiterklasse den Klassenkampf aber durch Autos, Waschmaschinen und Fernseher habe abkaufen lassen, weshalb jetzt andere die Revolution machen müssten. Folgerichtig beschlossen Studenten, den Klassenkampf selbst in die Hand zu nehmen.

Auch ein gewisser Winfried Kretschmann machte mal Klassenkampf

Die Arbeiterklasse brauchte eine "Vorhut" in Gestalt einer "marxistisch-leninistischen Partei", denn ohne eine solche war sie "gleichsam ein Körper ohne Kopf, unfähig zu selbstständigem politischen Handeln". So stand es in der "Einführung in den Dialektischen und Historischen Materialismus" aus der DDR von 1971. Nach dieser Logik entstanden an westdeutschen Universitäten jede Menge solcher Vorhuten, vom Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) bis zur KPD/Aufbauorganisation. Für jene, die dabei waren, bedeuteten die K-Gruppen viel vertane Lebenszeit, einige sympathisierten mit Terroristen und Staatsverbrechern wie Pol Pot, und nicht alle hatten so viel Glück wie jener Lehramtskandidat aus dem Schwäbischen namens Winfried Kretschmann, dem seine Frau rechtzeitig den Kopf zurecht rückte, worauf er aus dem KBW aus- und bei den Grünen eintrat. Heute ist er Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

Inzwischen wird wieder über Klassen geredet, so als sei das alles nicht passiert. Man findet Buchtitel wie "Ungleichheit in der Klassengesellschaft" (Autor ist der Politologe Christoph Butterwegge) oder "Klassen im Kampf. Vorschläge für eine populäre Linke" von Thomas Goes, einem Soziologen aus Göttingen). Am 1. Mai demonstrierte die "Antikapitalistische Linke", eine Strömung innerhalb der Linkspartei, unter der Parole "Klasse gegen Klasse" gegen das "Pandemiemanagement des Kapitals".

Auch außerhalb der Linkspartei verfängt das Gerede von den Klassen. Die Einkommen in Deutschland sind ungleich verteilt, weshalb viele glauben, dass die Kluft zwischen arm und reich immer größer wird und dass sich die Armut "in die Mitte der Gesellschaft hineinfrisst" (Butterwege). Die komplizierte Wirklichkeit lässt sich nicht so leicht kommunizieren wie die Begriffe von Marx und Engels. Tatsächlich hat ja die Ungleichheit in Deutschland zugenommen - von 1995 bis 2005. Seither aber verändert sie sich nur noch wenig. Das lässt sich anhand der Zahlen des Statistische Bundesamtes gut belegen.

Das Vermögen ist ungleich verteilt, aber das hat nicht zu mehr Armut geführt

Und natürlich gibt es Reiche und sehr Reiche in Deutschland, sie sind wegen steigender Aktien- und Immobilienpreise zuletzt noch reicher geworden. Die Verteilung der Vermögen ist sogar ungleicher als in den meisten anderen Ländern Europas. Man darf aber nicht vergessen, warum das so ist. Vermögen dient vor allem dazu, den Lebensstandard im Alter zu sichern. Für Normalverdiener in Deutschland aber ist die wichtigste Form der Altersvorsorge die Rente. Rentenansprüche zählen jedoch in der Statistik nicht als Vermögen. Ohne diesen Effekt läge die Vermögensverteilung Deutschlands im europäischen Mittelfeld. Wichtiger noch: Der Reichtum hat nicht zu mehr Armut geführt. Der Anteil armutsgefährdeter Menschen ist im Gegenteil leicht gesunken, von 19,7 Prozent 2016 auf 15,9 Prozent 2019. Unter Deutschen ohne Migrationshintergrund liegt der Anteil bei 11,7 Prozent. Dass es unter Migranten deutlich mehr Arme gibt, hat nichts mit Ausbeutung zu tun, sondern mit der simplen Tatsache, dass viele von ihnen arm nach Deutschland kommen.

Man kann sich Deutschland schon ein wenig egalitärer wünschen. Die alte Klassentheorie hilft dabei aber nichts, sie bringt nicht einmal Erkenntnisgewinne. Das zeigt die Flut von Klassenbegriffen: die "Lohnabhängigen", "Haupt- und "Nebenklassen" oder auch die "herrschende Klasse". Soziologe Goes unterscheidet auch noch zwischen "Monopol-, Mittel- und Kleinkapital", dem "traditionellen Kleinbürgertum", "lohnabhängigen kleinbürgerlichen Zwischenschichten" und, besonders schön, der "buntscheckigen ArbeiterInnenklasse".

Aber welcher Klasse gehört ein Soziologieprofessor mit sicherem Arbeitsplatz und gutem Gehalt an? Einer "lohnabhängigen kleinbürgerlichen Zwischenschicht"? Oder einer eigenen Klasse, der Intellektuellen? Was ist mit Uğur Şahin, der mit seiner Frau Özlem Türeci das Pharmaunternehmen Biontech aufgebaut hat und den ersten Impfstoff gegen Covid-19 entwickelte? Er ist heute Kapitalist (Angehöriger der herrschenden Klasse). Ursprünglich kam er aber als Kind türkischer Einwanderer nach Deutschland, sein Vater arbeitete bei den Ford-Werken in Köln (Angehöriger der buntscheckigen ArbeiterInnenklasse). Ist es wirklich sinnvoll, ein Land, in dem so ein Erfolg möglich ist, als "Klassengesellschaft" zu bezeichnen?

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