Mein Leben in Deutschland:Protest ist ein demokratischer Luxus

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Ein Graffitisprayer in den Trümmern eines Hauses in einem Vorort von Damaskus. (Foto: AMER ALMOHIBANY/AFP)

Unser Gastautor macht sich Gedanken über den "Ungehorsam", der hierzulande toleriert wird - und zieht einen Vergleich zu seiner Heimat.

Von Yahya Alaous

"Das Recht auf Ungehorsam". Ich weiß nicht, wer diesen Satz auf eine der Mauern in meiner Berliner Nachbarschaft geschrieben hat und warum. Wahrscheinlich waren es "Querdenker", die gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung protestieren. Ich blieb neulich lange vor diesem Satz stehen, der mir wie eine magische Phrase vorkam, angesichts der vielen Erinnerungen und Gedanken, die in mir hochkamen.

Der erste Artikel des deutschen Grundgesetzes, der seinen Geist zusammenfasst, lautet: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Mir kommt die Phrase "Das Recht auf Ungehorsam" wie eine Erweiterung dieses ersten Artikels vor, obwohl das Grundgesetz das Wort Ungehorsam nicht enthält, und obwohl vielleicht keine andere Verfassung in der Welt diese Phrase enthält oder ausdrücklich sagt, dass ziviler Ungehorsam geschützt sei.

Es stimmt, dass Artikel 20 ein ähnliches Recht vorsieht, nämlich das Recht auf Widerstand, sofern die deutsche Verfassung verletzt wird und es keine anderen Verfahren gibt, um dieser Verletzung zu begegnen. Aber kann Widerstand als Ungehorsam angesehen werden? Wenn ja, warum würden diejenigen, die solche Sätze schreiben, das Wort Ungehorsam und nicht das Wort Widerstand verwenden?

Sicherlich hat das Wort Ungehorsam eine andere Wirkung, und es ist ein fortgeschrittener Eskalationsfall, verglichen mit Widerstand, besonders wenn wir über demokratische Regime sprechen. Was Diktaturen betrifft, so werden Demonstrationen oder einfache Proteste als illegale Handlungen, die zur Verhaftung oder zum Tod führen können, angesehen - was natürlich zu der Kultur passt, die unter den Diktaturen gefördert wird und auf der Annahme einer Kultur des Gehorsams und der Nicht-Rebellion in der Gesellschaft basiert.

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Das Erbe der Gehorsamskultur

Ich habe in diesem Land viele breite Proteste gegen die Klimapolitik, gegen die Unterstützung von Flüchtlingen und kürzlich gegen die Regierungsgesetze zur Bekämpfung des Coronavirus erlebt und auch von anderen Protesten gehört, etwa gegen die Nutzung der Atomenergie und gegen den Verkauf von Waffen an Schurkenstaaten. Jedes Mal habe ich mich gefragt, wie Flüchtlinge, die denken, dass das "Ende der Geschichte", wie es Francis Fukuyama 1989 verkündete, in einem Land wie Deutschland eine Realität ist und das demokratische System in bester Verfassung, wie diese Flüchtlinge solche Proteste empfinden mögen. Proteste, die auch mal gewalttätig sein können, wie bei den 1.-Mai-Feiern. Betrachten nicht einige von ihnen diese Aktivitäten als demokratischen Luxus? Während sie sich doch mit den Grundprinzipien der Demokratie wie Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit und Akzeptanz jedweder sexuellen Orientierung auseinandersetzen müssen.

Sicherlich wird es vielen Flüchtlingen nicht leichtfallen, die Forderungen der extremsten Aktivisten zu verstehen, derer, die nicht aufhören, mehr Freiheiten zu fordern, wie etwa das Recht auf Ungehorsam, während viele Neuankömmlinge aus Syrien beispielsweise danach streben, das Erbe der ewigen Gehorsamskultur, die sie und ihre Väter jahrzehntelang begleitet hatte, loszuwerden. Bevor sie sich 2011 endlich dagegen auflehnen konnten.

In den frühen Tagen der Revolution im Jahr 2011 waren Graffiti eines der markantesten Zeichen der Rebellion in Syrien. Wir sahen jeden Tag neue Sprüche an den Mauern und Brücken, wie zum Beispiel: "Die Menschen wollen das Regime ändern" oder "Freiheit für immer oder jetzt gehen", und viele junge Männer bezahlten mit ihrem Leben, weil sie diese Sprüche schrieben.

Jetzt kann ich mir einen jungen Mann vorstellen, der einen Schal trägt, der sein Gesicht verdeckt, der nach Mitternacht ankommt, der sein Leben riskiert, um einen Satz an eine Wand in einem rebellischen Viertel zu schreiben, und sich dann davonschleicht, damit niemand weiß, wer er ist. Und ich stelle mir einen anderen jungen Mann oder eine Frau vor, die am helllichten Tag im Herzen Berlins stehen und schreiben, was immer sie wollen, ohne Angst vor Verhaftung oder Verfolgung zu haben. Das ist der Unterschied zwischen Ländern, die am Ende der Geschichte stehen, und denen, die außerhalb der Geschichte leben.

Übersetzung: Jasna Zajcek

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