EM-Eröffnungsspiel:Italien feiert den Erlöser

International Friendly - Italy v Czech Republic

Der Trainer mit der Fächergeste: Roberto Mancini.

(Foto: Alberto Lingria/Reuters)

Die verpasste WM 2018 war eine Apokalypse für die fußballverrückte Nation - dann kam Roberto Mancini, als Nationaltrainer auch mit 56 noch fit und schön. Vor dem EM-Auftakt gegen die Türkei wird er regelrecht glorifiziert.

Von Oliver Meiler, Rom

Roberto Mancini sieht noch fast genauso aus wie damals, als er noch aktiv Fußball spielte, und wahrscheinlich würde er dieses Kompliment ganz besonders gerne hören. Er ist jetzt 56, sein Teint trägt immer diese beiläufig gebräunte Note - ob er sich die auf seiner Yacht holt? Firefly heißt sie, ist 30 Meter lang, jeden Sommer gibt es Bilder davon in den Klatschheftchen. Und dann die Haare: Mancini trägt sie noch immer ähnlich lang wie früher, die Strähne streicht er sich vor den Fernsehkameras ständig und recht theatralisch aus dem Gesicht, diese Fächergeste ist zur Marke geworden.

Der Trainer der italienischen Nationalmannschaft, die an diesem Freitag in Rom vor 16 000 Zuschauern das EM-Turnier mit dem Gruppenspiel gegen die Türkei eröffnet (21 Uhr, Rom), hält sich in Form, fit unter all den jungen Fitten. Der Job gefällt ihm. Das tägliche Coaching-Geschäft, wie es ein Trainer eines Vereins mit sich herumschleppt, fehlt Mancini offenbar nicht, er will noch lange bleiben: Gerade hat er seinen Vertrag mit dem italienischen Fußballverband verlängert - bis 2026, offenbar für vier Millionen Euro Salär im Jahr, plus Bonus, das ist ein stattliches Arrangement. Einen Zyklus will Roberto Mancini prägen, eine Ära, eine halbe Ewigkeit.

Der Auftakt dazu ist schon einmal geglückt, wobei man sagen muss, dass es vielleicht nie leichter gewesen war, eine Besserung zu bewirken, als bei seinem Amtsantritt vor drei Jahren. Mancini hat die Azzurri zu einem Zeitpunkt übernommen, da sich viele italienische Fußballfans gerade fragten, ob sie sich fürs trikolore Befinden nicht besser einer anderen Sportart zuwenden sollten.

Es war passiert, was man immer für unmöglich gehalten hatte: eine Weltmeisterschaft ohne Italien, die allererste der Geschichte. Die Italiener verpassten das Turnier 2018 in Russland, müde und ideenlos - unter der Leitung von Coach Gian Piero Ventura, einem Commissario Tecnico ohne vorherige internationale Erfahrung. Gescheitert war man in der Playoff-Barrage gegen Schweden - gegen Schweden!

Carlo Tavecchio, Italiens drolliger Verbandspräsident jener Zeit, nannte das eine "Apokalypse". Vor biblischen Entlehnungen sollte man sich zwar unbedingt hüten, aber Weltuntergang traf es schon sehr gut. Der Trainer Ventura war schnell weg, Tavecchio auch. Nach einer kurzen Übergangszeit, um sich neu zu sortieren, holten die Italiener im Sommer 2018 Roberto Mancini, einen ihrer besten Trainer, einen mit richtig viel Erfahrung, im In- und Ausland: Lazio Rom, Fiorentina, Zenit Sankt Petersburg, Galatasaray Istanbul.

Mit Inter Mailand gewann er drei Mal den Scudetto, das italienische Meisterabzeichen, mit Manchester City einmal die Premier League. Damals, in seinen Jahren in England, waren die Modezeitschriften fast ebenso begeistert von ihm wie die Sportblätter.

In seinen ersten drei Jahren hat Mancini so viele Spieler berufen wie wohl kein Trainer vor ihm

Der großen Welt fiel Mancinis postapokalyptische Berufung zum Nationalcoach wahrscheinlich trotzdem nicht auf, denn die schaute gerade nach Russland. In Italien aber setzte die staatliche Sendeanstalt Rai sofort ein Filmteam auf den Hoffnungsträger an. Auf den Erlöser, um beim Biblischen zu bleiben.

Fast drei Jahre lang haben die Rai-Dokumentarfilmer nun gedreht, sogar in die Umkleidekabinen des Nationalmannschafts-Trainingslagers von Coverciano durften sie, zum ersten Mal überhaupt. Überall reisten sie mit, zu jedem Spiel unter Mancini. Das Material hätte wohl locker ausgereicht für eine ausgewachsene Serie, doch man begnügte sich mit vier Folgen, einer sogenannten Miniserie: "Un sogno azzurro", ein azurner Traum also, wurde auf die letzten Tage vor Beginn dieser EM angesetzt - jeweils im Anschluss an die Abendnachrichten auf Rai Uno, den "TG1". Die erste Folge handelte davon, wie Roberto Mancini das Team neu gebaut hat. Und das ist dann schon die halbe Geschichte.

In seinen ersten drei Jahren hat Mancini so viele Spieler berufen wie wohl kein Trainer vor ihm in so kurzer Zeit, unter ihnen eine Schar von Debütanten. Zuweilen reichte es, dass einer in der italienischen Meisterschaft zwei, drei ansprechende Spiele absolviert hatte, schon kam er ins Aufgebot. Vor allem aber schaffte es Mancini, dem Team neuen Esprit einzuhauchen, ein neues Selbstvertrauen, mit jedem Rekord wurde es etwas mehr. Kein Trainer der Azzurri vor ihm blieb für mehr Spiele nacheinander ungeschlagen. Manchmal spielte Italien dabei richtig gut: schnell und kombinationssicher. Sehr viele große Gegner waren allerdings nicht dabei. Im Fifa-Ranking ist Italien wieder die Nummer sieben, nachdem es zwischenzeitlich auf den 21. Platz abgestürzt war.

Mancini ist bekannt dafür, dass er jene Spieler besonders mag, die ihn an sich selbst erinnern, in puncto Technik und Klasse. 15 Jahre lang hatte er für Sampdoria Genua gespielt, seinen Leibesverein, bevor er noch ein paar erfolgreiche Jahre bei Lazio Rom und einige wenige Spiele zum Vergessen bei Leicester City anhängte. 566 Einsätze waren es insgesamt, er ist zur Sampdoria-Vereinsikone geworden. Mancini war ein feiner offensiver Mittelfeldspieler mit Neigung zur hängenden Spitze, ein Samtfuß und Trickspieler.

Mit Torjäger Gianluca Vialli bildete er das Traumduo der Sampdoria, wohl eines der symbiotischsten in der Geschichte des Calcio, sogar Meister wurde man damals, und den Europapokal der Pokalsieger gewann Genua auch. Mancinis "Zwillingsbruder", wie die Gazzetta dello Sport Vialli nennt, ist nun "Capo Delegazione", der Delegationsleiter der Nazionale.

Mancini gehörte früher allerdings zu jener Kategorie prominenter Fußballer, die im Nationalteam ihre grandiose Vereinsleistung nicht so ganz replizieren können: nur 34 Länderspiele, vier Tore - für einen wie ihn war das eine recht dürftige Ausbeute. In jener Zeit war die Konkurrenz aber auch größer als heute, auf Mancinis Position spielten auch noch Größen wie Roberto Baggio und Gianfranco Zola.

In Mancinis Nationalteam ist das Mittelfeld die verlässlichste Abteilung

In der Gegenwart hat Italien eine schöne Fülle talentierter, junger Spieler. Doch es fehlt ein Überstrahler, einer, der alle Aufmerksamkeit mit Macht auf sich zieht. In Mancinis Nationalteam 2021 ist das Mittelfeld vielleicht gerade die verlässlichste Abteilung. Im Idealfall spielen da Marco Verratti von Paris Saint-Germain als offensiver Regisseur, der aber wohl erst im zweiten Gruppenspiel fit sein wird - und Jorginho vom frisch Champions-League-gekrönten FC Chelsea als "Pivot", als Sechser im Rückraum.

Nicolò Barella von Inter gesellt sich immer mal wieder zum Sturm. In der Defensive zählt der Trainer auf Gigio Donnarumma, den hünenhaften und noch immer jungen Torwart, der beim AC Mailand groß geworden ist - und auf die bewährten "Senatoren" in der Innenverteidigung: auf Giorgio Chiellini, bald 37, und Leonardo Bonucci, 34, beide von Juventus Turin.

Die größten Sorgen bereitet Mancini der Sturm. Nicht dass seine Mannschaft zu wenige Tore schösse, sie schießt eine ganze Menge, verteilt auf viele Schützen. Doch der Trainer kann sich nicht auf einen Mittelstürmer festlegen: In Konkurrenz stehen Routinier Ciro Immobile von Lazio und Andrea Belotti vom FC Turin - und sie treffen zu selten.

Daher kam zuletzt auf der Neuner-Position manchmal ein Mann zum Einsatz, von dem außerhalb Italiens wohl nur wenige je gehört haben: Francesco "Ciccio" Caputo von Sassuolo Calcio, 33 Jahre alt, ein Spätberufener. Ins Aufgebot schaffte es Caputo dann doch nicht, dafür zog Mancini seinen Vereinskameraden Giacomo Raspadori nach, 21 Jahre, von dem es heißt, er könnte der neue Paolo Rossi werden. Nun ja.

Einfacher fällt die Bestellung der offensiven Flügel. Links ist Lorenzo Insigne aus Neapel gesetzt, rechts hat Mancini die Auswahl zwischen Domenico Berardi aus Sassuolo und Federico Chiesa von Juventus - mehr ein Luxus als eine Qual.

Was aber leicht vergessen wird: Der Rumpf der Mannschaft ist derselbe, der Italiens Fußball vor Mancinis Ankunft in die Apokalypse geführt hatte. Nur die Attitüde ist eine andere, das Selbstverständnis. Die Italiener spielen wie im Konzert, dafür wird Mancini glorifiziert. Man verzeiht ihm sogar saudumme Ausrutscher. Mitten in der Pandemie teilte er in den sozialen Medien einen Post, der die Schwere des Leids hinterfragte, wie sie gerade Italien erfahren hat.

Es war eine Art Cartoon, man sah darauf einen Patienten im Krankenhaus, der einem Pfleger erzählt, er habe sich das Virus beim Schauen der Fernsehnachrichten geholt. Mancini, ein Negationist, ein Querdenker? Er entschuldigte sich, und wenig später erkrankte er selbst an Covid-19. Die Polemik war schnell vergessen.

Kurz vor dem EM-Anpfiff schrieb Mancini den Fans noch einen offenen Brief: "Unsere Mannschaft weiß, dass sie bei der Euro eine fantastische und entschlossene Nation vertritt. Es werden Momente der Freude, die uns kurz das letzte Jahr vergessen lassen." Ein azurner Traum also, gestiftet vom Mann mit dem gepflegten Auftritt. Wenn daraus nur mal kein blaues Wunder wird, die Übergänge in diesem Sport sind ja fließend.

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