Die Documenta 6 und die DDR-Kunst:Die Freiheit und ihre Grenzen

ACHTUNG - CREDIT BEACHTEN: Eine Führung durch die documenta 6 vor den Gemälden Meine Eltern (1974), Die Sieger (1972) und Sauna in Wolgograd (1973) von Willi Sitte (1921- 2013), Museum Fridericianum documenta archiv / © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Die Kunst des sozialistischen Realismus erklärt eine Mitarbeiterin bei der Documenta 6 vor den Gemälden "Meine Eltern", "Die Sieger" und "Sauna in Wolgograd" von Willi Sitte.

(Foto: documenta archiv/VG Bild-Kunst, Bonn 2021)

1977 lädt Kurator Manfred Schneckenburger Künstler aus dem Osten ein - zum Entsetzen mancher Westdeutscher.

Von Andreas Kühne

Worüber Joseph Beuys nachdachte, als er den "Erdkilometer" betrachtete, den Walter De Maria auf der Documenta 6 vor dem Kasseler Fridericianum versenkt hatte, wissen wir nicht. Doch wahrscheinlich, so legt es ein Foto nahe, kreisten seine Gedanken eher um die "Erde und ihren Ort im Universum" als um die kulturpolitischen Querelen, die diese Documenta begleiteten. Äußerlich fand sie ganz im Zeichen der Entspannung statt; der Ost-West-Konflikt war in eine relativ ruhige Phase eingetreten. Die Ausbürgerung von Wolf Biermann im November 1976 lag schon eine Weile zurück. Auf westdeutscher Seite bildeten die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer im September 1977 und die folgenden terroristischen Gewaltakte eine schrille Begleitmusik zur Documenta. Aber die Lust des Publikums, das so zahlreich wie nie zuvor zur "Weltausstellung der Kunst" pilgerte, konnte sie nicht mindern.

Der Ostblock hatte 1972 eine Beteiligung abgelehnt

Vor diesem Hintergrund war es ein kluger Schachzug von Documenta-Kurator Manfred Schneckenburger, erstmalig - auch letztmalig - Vertreter der "offiziellen" Kunst aus der DDR einzuladen. Eigentlich eine contradictio in adjecto, denn Kassel sollte nach dem Willen der Gründer 1955 ein Hort der Kunstfreiheit sein, ein Gegenpol, der sich von den Formalismusdebatten und der normativen Ästhetik des "sozialistischen Realismus" im Osten abgrenzte. Zwanzig Jahre später war es an der Zeit, dieses Konzept kritisch zu befragen, und schon Harald Szeemann, der Kurator der Documenta 5 von 1972, hatte versucht, unter dem Motto "Parallele Bildwelten" Kunst aus der DDR und aus Osteuropa zu holen. Dieses Vorhaben scheiterte am Widerstand der Kulturbürokraten in Budapest, Prag, Sofia und Ostberlin.

Fritz Cremer (1906-1993), Skulptur "Aufsteigender" auf
der documenta 6, 1977

Den Völkern, die um ihre Freiheit kämpfen, hat Fritz Cremer die Skulptur "Aufsteigender" gewidmet, die 1977 in Kassel zu sehen war.

(Foto: Hans Heinrich Braun, Thomas Michael Braun/documenta archiv/VG Bild-Kunst, Bonn 2021)

Manfred Schneckenburgers Auswahl der Maler-Professoren Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Willi Sitte und Werner Tübke, die in ihrer sozialistischen Heimat durchaus keine geschlossene Phalanx bildeten, führte jedoch zum Erfolg. Dem Kurator war wohl bewusst, dass Willi Sitte, Präsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR und Mitglied der Volkskammer der DDR die Schlüsselfigur für das Gelingen sein würde. Und tatsächlich gaben sowohl der Kulturminister der DDR als auch die Kulturkommission des ZK der SED grünes Licht für die Reise der Kunstwerke nach Kassel. Mit der Betreuung des DDR-Beitrags beauftragte Sitte den Kunstwissenschaftler Lothar Lang, der als IM (Deckname "Schreiber") auch für die Stasi arbeitete, was damals niemand wusste. In welchem Maße Lang kuratorisch tätig werden konnte, lässt sich heute nur noch schwer rekonstruieren. Nicht zuletzt der störrische Werner Tübke hatte eigene Vorstellungen davon, welche Arbeiten er in Kassel zeigen wollte. Sitte ergänzte die Künstlerauswahl um die Bildhauer Fritz Cremer und Jo Jastram.

Westdeutsche Künstler protestieren

Schneckenburgers Konzept, gegenständliche Malerei aus Ost und West zu konfrontieren, ging jedoch nicht ganz auf, da Georg Baselitz und Markus Lüpertz, deren Werke in unmittelbarer Nachbarschaft der DDR-Künstler präsentiert werden sollten, ihre Bilder zurückzogen. Am 22. Juni 1977 wurden bei einer Pressekonferenz Flugblätter verteilt, in denen die beiden mitteilten, dass sie aus Protest gegen die "Überlastigkeit zugunsten der DDR-Vertreter" nicht teilnehmen würden. Auch andere "Ausgebürgerte" und Verfolgte des DDR-Regimes protestierten. Naturgemäß lieferten sich die Rezensenten in der Presse und den Kunstzeitschriften heftige Wortgefechte über Konzept und Wert dieser Ausstellung. Von der Mehrzahl der Besucher wurden die Werke aus der DDR jedoch mit Interesse und Wohlwollen wahrgenommen. Natürlich gab es die "Die können ja noch malen"-Rufe, doch angesichts der Vielfalt und Internationalität der Documenta wirkten diese Stimmen spießig und unqualifiziert. Auch Beuys bekundete Interesse und ließ sich von Lothar Lang durch die DDR-Abteilung führen.

Bei näherem Hinsehen erwiesen sich die Bilder der Staatskünstler aus der DDR nicht als durchwegs apologetisch oder propagandistisch. Mattheuers "Freundlicher Besuch im Braunkohlenrevier" von 1974 war ein gelungenes Bild und zugleich eine ikonografisch verschlüsselte, aber durchaus lesbare Kritik an der Umweltpolitik der SED. Sowohl Mattheuers "Übermütiger Sisyphos und die Seinen" (1976) als auch Bernhard Heisigs "Ikarus" (1973) suchten mithilfe des griechischen Mythos nach den "Schwierigkeiten beim Suchen der Wahrheit". Selbst Willi Sitte zeigte neben ideologisch aufgeladenen Großformaten mit den orgiastischen "Strandszenen mit Sonnenfinsternis" von 1974 noch einen anderen Blick auf den sozialistischen Menschen.

Schaut man heute - 44 Jahre später - zurück auf die Documenta 6, stellt sich Beteiligung von Künstlern aus dem Osten als weitaus komplexer dar, als sie wahrgenommen wurde. Viele der Eingeladenen, darunter Alexander Kluge, Imi Knoebel, Sigmar Polke, Klaus Staeck und Günther Uecker stammten zwar aus dem Osten, konnten aber mit Fug und Recht als "West-Künstler" gelten. Anders verhielt es sich mit Künstlern wie dem 1936 im sächsischen Heidenau geborenen Maler Eugen Schönebeck, der wesentliche Impulse noch in der DDR empfangen hatte, in Westberlin eine Zeit lang Mitstreiter von Georg Baselitz gewesen war und mit ihm die "Pandämonischen Manifeste" (1961 - 1962) verfasst hatte.

Der in Altenburg in Thüringen lebende Gerhard Altenbourg war ebenfalls Teilnehmer der Documenta 6, ohne in die Bundesrepublik einreisen zu dürfen. Ihn einen DDR-Künstler zu nennen, fällt damals wie heute schwer; er bezog seine künstlerischen Inspirationen aus ganz anderen Quellen und hatte die DDR längst über eine "innere" Grenze verlassen.

A.R. Penck durfte nicht teilnehmen

Der wahrscheinlich einzige wirklich dissidentische Künstler aus der DDR, der für die Documenta 6 nominiert war, konnte nicht teilnehmen. Sehr wahrscheinlich ist, dass die Stasi massiven Druck auf die Ausstellungsleitung ausübte und damit drohte, dass bei A.R. Pencks Teilnahme die DDR-Delegation samt ihren Werken wieder abreisen würde. Der Künstler, der 1980 aus der DDR ausgebürgert wurde und dann an der Düsseldorfer Kunstakademie zum Professor berufen wurde, ist 2017 in Zürich verstorben.

Nach dem Fall der Mauer fanden viele Ausstellungen mit Werken der sogenannten "Dissidenten", der "Angepassten" und der "Staatsdiener" statt. Wie brüchig, widersprüchlich und teilweise irreführend diese Kategorien sind, hatte sich schon während der Documenta 6 gezeigt. Bewertungen wurden vorgenommen, bei denen die ästhetischen Qualitäten der Kunstwerke häufig auf der Strecke blieben. Dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen.

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