Klassik:Vogelgezwitscherspektakel

Musikfestspiele Potsdam

Altmodischer Charme in schön gemalter arkadischer Bühnenlandschaft: Telemanns "Pastorelle" in Potsdam

(Foto: Stefan Gloede/© Stefan Gloede/Musikfestspiele)

Dorothee Oberlinger ist Meisterblockflötistin, Dirigentin und Intendantin der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci. Dort hat sie jetzt Georg Philipp Telemanns "Pastorelle en musique" auf die Bühne des Neuen Palais gebracht.

Von Wolfgang Schreiber

Hat Friedrich der Große, preußischer Flötenspieler und Staatslenker, in Potsdam Sanssouci wenigstens seine künstlerische Nachfolge noch geregelt bekommen? Es scheint so zu sein. Dorothee Oberlinger ist eine Meisterin des Flötenspiels und seit Kurzem Intendantin der von Friedrichs königlichen Schlössern und Gärten inspirierten Musikfestspiele Potsdam Sanssouci. Im frisch restaurierten Schlosstheater Neues Palais leitet Oberlinger, am Pult ihres Ensemble 1700, die Komödie "Pastorelle en musique" von Georg Philipp Telemann, coronabedingt nur vor 80 statt 225 Zuschauern. Die Festspielproduktion wird weiterziehen: zur Musica Bayreuth, den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik und den Magdeburger Telemann-Tagen in der Geburtsstadt des großen Komponisten.

Das operettenhafte Stück, ein "Schäferspiel" von 1715 um zwei widerspenstige Hochzeitspärchen, erfuhr im 20. Jahrhundert einen historischen Schicksalsschlag: Die Rote Armee verschleppte 1945 die einzige Partitur nach Kiew, zusammen mit vielen Manuskripten im Notenarchiv der Berliner Sing-Akademie. Erst 2002 gelang die Heimholung, zwei Jahre später wagte die Komische Oper Berlin die szenische Wiederbelebung. Die Partitur gehört jetzt der Berliner Staatsbibliothek.

Wer nun geglaubt hatte, die politischen Verwerfungen um die "Pastorelle en musique" könnten sich in einer konfliktscharf "aktualisierten" Interpretation des Stücks wiederfinden, einer modern-grellen Bildersprache, sah sich getäuscht. Doch immerhin: Die von Johannes Ritter schön gemalte arkadische Bühnenlandschaft mit Wald und Feld, die rhythmisch belebten, auch etwas derb gefassten Bewegungsspiele der Darsteller durch Regisseur Nils Niemann, das alles hat Methode. Und einen altmodischen Charme.

Musikfestspiele Potsdam

Caliste und Iris drängen ihre Galane Amyntas und Damon in die zeitgemäß vertraute Debatten- und Streitkultur.

(Foto: Stefan Gloede/© Stefan Gloede/Musikfestspiele)

Freilich geht es bei dem in Gestik und Mimik barock durchstilisierten Debatten- und Arien-Spiel zweier Paare um etwas heutzutage gesellschaftlich sehr Modernes, Aufregendes: um das Gefühlschaos junger Menschen, ihre emotionalen Konflikte und Wünsche zum Thema Bindung und/oder Freiheit, Formenstrenge oder Lässigkeit. Das Mädchen Caliste singt stolz und koloraturenrebellisch "Freiheit soll die Losung sein", Iris entpuppt sich als zutraulich weitherzigere junge Dame. Beide drängen ihre Galane Amyntas und Damon in die zeitgemäß vertraute Debatten- und Streitkultur - mit lyrischer Stärke und Impulsivität Lydia Teuscher und Marie Lys, etwas weniger elegant, dabei behäbig Countertenor Alois Mühlbacher und Florian Götz. Knirfix heißt der kauzige Kritiker der beiden, mit Virgil Hartingers brummiger Grazie. Das Spektakel in historischer Anmutung, der Galanterie von einst entsprechend und harmlos heute, soll ohne sarkastische Störmanöver dem musiktheatralen Genuss dienen.

Für die Schärfe der musikalischen Diktion Telemanns hat Dorothee Oberlinger am Dirigentenpult eine hellwache Auffassungsgabe. Die von ihr gegründete Barockbanda Ensemble 1700, rund zwanzig junge Musikerinnen und Musiker, hat sie trennscharfes Musizieren gelehrt, Phrasierungstreue und Klangfarbensinn. Und Oberlingers Temperamentsausbrüche bleiben klug an die Partitur gebunden. Ihrer Vorliebe für Stilvielfalt, für Melodienseligkeit und spielerische Virtuosität kommt die Musik des gegenüber dem fast gleichaltrigen Kollegen J. S. Bach oft unterschätzten Georg Philipp Telemann besonders entgegen. Und Telemanns ausgesprochener Mut scheint sie schon lange zu befeuern: Zwei Hörner, zwei schrille Trompeten und Pauke neben Streichern, Laute und Cembalo in einem Schäferspiel auftrumpfen zu lassen, von der raubeinigen Ouvertüre an, das muss sich ein Komponist erst mal trauen.

Tatsächlich schrieb Telemann das Bühnenwerk in seiner Musikdirektorenzeit zu Frankfurt am Main, das Ewigkeitsthema Liebe lag dem frisch Verwitweten nahe: Dreiunddreißigjährig heiratete er hier eine Sechzehnjährige und zeugte mit ihr in sieben Jahren sechs Kinder. Die "Pastorelle", das Festspiel mit Vorwitz, melodischer Buntheit und tänzerischem Genie, mit italienischen Arien, französischen Airs und frechen Chortableaux, hat Dorothee Oberlingers Lust auf historisches Musizieren am historischen Neuen Palais Sanssouci Friedrichs des Großen herausgefordert. Für ein barockes Vogelgezwitscher darin greift sie dann rasch selbst mal zur Flöte.

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