Joachim Löw bei der EM:Ein Trainer, der Spiele verkauzt

Fußball EM - Deutschland - Ungarn

Was soll man von diesem Mann nur halten? Joachim Löw beim Spiel gegen Ungarn

(Foto: Federico Gambarini/dpa)

Früher war Joachim Löw immer genau dann straff, wenn alle ihn für schlaff hielten. Inzwischen ist der Bundestrainer ein wenig sonderbar geworden - seine Mannschaft aber auch.

Kommentar von Christof Kneer

Was soll man von diesem Mann nur halten? Nach dem ersten Spiel gegen Frankreich war Jogi Löw noch der Trainer, der sich nicht traut. Er hat die Franzosen in der Vorbereitung auf dieses Spiel so groß gemacht, dass seine Spieler sich ganz klein vorkamen. Er hat seine Spieler ohne Not angeleint, er hat ihnen ihren Spieltrieb und ihre Abenteuerlust genommen. Die Spieler haben ihren Trainer nicht hängen lassen, sie haben sich tapfer eine Fake-Überlegenheit erkämpft, aber kein einziges Mal aufs französische Tor geschossen. Es war klar: Der Löw ist durch, der hätte sich nach der WM 2018 halt doch zurückziehen sollen, um hauptberuflich mit dem Oldtimer durchs Höllental zu cruisen. Der Löw brennt nicht mehr richtig, wie soll der seine Spieler anzünden?

Vier Tage später hat er seine Mannschaft von der Leine gelassen. Seine Spieler waren on fire und gleichzeitig mit einem schlüssigen Matchplan ausgestattet, den Löw unter den Eindrücken des ersten Spiels überarbeitet hatte. Es war klar: Der Löw ist noch lange nicht durch, der will es nochmal wissen. Und war es nicht schon immer seine beste Disziplin, den Trotz nutzbar zu machen und genau dann straff zu sein, wenn alle ihn für schlaff halten?

Und jetzt, im dritten Spiel gegen Ungarn? Stand Löw im Dschungelregen von Fröttmaning und musste mit ansehen, wie beinahe sein ganzes Lebenswerk nass wurde. Nicht mal zehn Minuten haben gefehlt, und er wäre der erste und unter Umständen einzige deutsche Bundestrainer aller bisherigen und noch kommenden Zeiten gewesen, der bei zwei aufeinanderfolgenden Turnieren in der Vorrunde rausfliegt. Und natürlich hätte man ihm öffentlich wieder den Prozess gemacht. Hat man schon mal einen Trainer gesehen, der bei vollem Bewusstsein gegen die psychologische Logik eines Spiels ancoacht und einen Torschützen (Havertz) direkt nach dessen befreiendem Tor auswechselt und damit auch noch den letzten Funken Strafraumpräsenz austritt?

Zehn Minuten später war Joachim Löw aber doch nicht rausgeflogen. Es ist jetzt nicht mal mehr ausgeschlossen, dass der Bundestrainer auf umgekehrte Weise historisch wird. Dass er in gut zwei Wochen neben der Queen im Wembley-Stadion steht und einen Pokal entgegennimmt. Und dass die Öffentlichkeit ihn hochleben lässt und dabei nochmal Zunge schnalzend die Erinnerung ans dritte Vorrundenspiel gegen Ungarn genießt, als Löws ausgezeichnete Einwechslungen (Musiala, Werner, Goretzka) das Tor zum 2:2 zur Folge hatten.

Die Mannschaft ist sich im Moment selbst das größte Rätsel

Der Trainer Löw ist inzwischen wie ein riesiges Buffet, es ist für jeden was dabei. Seine Kritiker können sich problemlos bedienen, sie finden mehr als genug. Und auch seine Sympathisanten müssen zumindest nicht sehr lange suchen, um fündig zu werden.

Mitunter ist Löw vorgeworfen worden, er habe neben allen seinen überragenden Verdiensten auch die Neigung, ab und an mal ein wichtiges Spiel zu vercoachen, aber seit der WM 2018 verkauzt er die Spiele eher. Und das ist die doch etwas bedenkliche Nachricht am Ende dieser seltsamen deutschen Vorrunde: In all den Jahren war Löw immer ein Trainer, der sich ein Geheimnis bewahrt hat (Sympathisanten-Sicht) oder ein Rätsel geblieben ist (Kritiker-Sicht), aber dieses Naturell wirkte all die Jahre eher wie eine angenehme Pointe. Neben diesem freundlichen, aber schwer einschätzbaren Trainer stand eine meistens sehr gut einschätzbare und verlässliche Mannschaft, die diesem Trainer stets folgte. Seit 2018 hat man aber das Gefühl, als schlage die Art des Trainers auf die Mannschaft durch: Auch sie ist ein wenig sonderbar geworden. Sie verspielt in der Nations League ständig Führungen, gerät im EM-Turnier dafür ständig in Rückstand und spielt mal wie ein Großer und mal wie ein Kleiner. Der Jojo-Jogi steht im Moment einer Jojo-Mannschaft vor.

Allerdings ist nicht mehr zu übersehen, dass hinter dem gemeinsamen Wankelmut auch ein paar handwerkliche Unzulänglichkeiten stecken. Löw hat seit 2018 (zu) viel Zeit verstreichen lassen und erst sehr spät damit angefangen, eine Turniermannschaft zu bauen, die sich wenigstens auf ein paar personelle und taktische Konstanten verlassen kann. Wie es bei diesem Turnier nun weitergeht, wird davon abhängen, welche der möglichen Löw-Interpretationen auf die Mannschaft übergeht. Ob sie sich selbst ein Rätsel bleibt - dann könnte die EM schon am Dienstag vorbei sein. Oder ob sie sich noch ein Geheimnis aufbewahrt hat - dann kann sie dieses Turnier immer noch gewinnen.

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