"New York Times"-Film über den Sturm aufs Kapitol:Horror-Stück

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Der Sturm aufs Kapitol wirkt in "Day of Rage" wie die Treppenszene von Odessa in "Panzerkreuzer Potemkin", nur umgekehrt als Treppenlauf nach oben. (Foto: LEAH MILLIS/REUTERS)

Die "New York Times" fasst den Sturm aufs US-Kapitol mit Handybildern und Audioaufnahmen zusammen. Der Film "Day of Rage" ist bewundernswert - und erschreckend.

Von Willi Winkler

Der Film ist so brutal, dass er eine Warnung braucht: Er zeige drastische Gewalt, heißt es im Vorspann, üble Schimpfwörter seien zu hören; auf Youtube darf man ihn erst ab 18 sehen. Aliens, Zombies, Mutanten oder andere Außerirdische sind es, die da in eine Stadt eindringen, sie brüllen sich heiser, drohen ihren Gegnern mit totaler Vernichtung, dann prügeln sie sich den Weg frei und walzen über Menschen hinweg. Eine Frau wird fast zerquetscht, eine andere erschossen, ein Polizist, in die Glastür eingeklemmt, schreit vor Todesangst. Erst nach einem stundenlangen Gefecht kann die Meute überwältigt und vertrieben werden. Ihr Mentor schickt seinen Heerscharen nach ihrem Feldzug einen aufmunternden Gruß: "Ihr dürft diesen Tag nie vergessen."

Donald Trump hatte die Präsidentschaftswahl im vergangenen November glorreich verloren, aber damit wollte er sich ebenso wenig abfinden wie seine Anhänger. Die treuesten unter ihnen eilten am 6. Januar 2021 nach Washington. An diesem Tag sollte das Ergebnis im Kapitol offiziell bestätigt werden, Vizepräsident Mike Pence würde Joe Biden auch formal zum Sieger erklären. Doch für Trumps Leute war er der Sieger, die Wahl gestohlen und der mit einem Mal ungetreue Pence, der sich seinem Chef nicht mehr fügen wollte, ein Verräter. Vor dem Kapitol errichteten sie einen Galgen.

Als hätte es Sergej Eisenstein auf maximalen Effekt montiert

Jetzt gibt es einen Film dazu, "Day of Rage" (Tag des Wütens), ein Horror-Stück, das die Nachrichtenbilder vom Januar noch weit überbietet.

Ein investigatives Team der New York Times hat in dem halben Jahr, das seither vergangen ist, Tausende von Handy-Filmen, die auf Facebook und anderen Kanälen verschickt wurden und zum Teil wieder gelöscht sind, gesichtet, ausgewertet und daraus ein vierzigminütiges Lehrstück geschnitten, das manchmal wirkt, als hätte es Steven Spielberg inszeniert und Sergej Eisenstein auf maximalen Effekt hin montiert.

Diese Szene aus dem Film zeigt zersplittertes Glas. Den Teilnehmern ging es laut Off-Kommentar darum, "unsere Art zu leben zu verteidigen". (Foto: NYT)

Die berühmte Treppenszene von Odessa in "Panzerkreuzer Potemkin", dutzendfach nachgespielt und parodiert, erscheint hier umgekehrt als Treppenlauf nach oben: Wild kostümierte Gestalten, wie sie sonst bei Indiana Jones und seinen kolonialen Abenteuern herumspringen, rotten sich zusammen, um im Namen der Demokratie den Hort der amerikanischen Demokratie zu stürmen. Als wäre Nationalfeiertag, wehen riesige Fahnen in Rot, Weiß und Blau, doch künden diese Feldzeichen von einer militärischen Kampagne: Auf jedem zweiten, vermutlich im bösen China gefertigten Tuch steht jedoch der Name des Anführers, der Amerika wieder groß machen wollte und von mindestens ebenso bösen Feinden im Inneren an der Vollendung seines Werkes gehindert wurde.

Einige, nicht wenige, verstanden die Reise nach Washington als "Ruf zu den Waffen"

Der Tag der Wut beginnt mit ein paar Fakten: Mehr als eine Million Mal war über Facebook verabredet worden, das Kapitol in Washington zu stürmen, Lagepläne des Gebäudes wurden herumgereicht, doch das FBI hatte alle Warnungen für unerheblich erklärt. Allenfalls ein, zwei Dutzend Polizisten standen bereit, um das Parlamentsgebäude vor dem angekündigten Überfall zu schützen.

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Der Tag beginnt auch mit dem gebetsähnlichen Eid, mit dem in den Schulen der USA jeden Morgen mit der Hand auf der Brust der Fahne die Treue geschworen wird. Der Kommentar aus dem Off gesteht den Demonstranten zu, dass sie die Reise nach Washington womöglich als Erfüllung einer patriotischen Pflicht verstanden. Einige, nicht wenige, verstanden sie als "Ruf zu den Waffen". Ihnen ging es darum, wie zu Anfang ein Teilnehmer erklärt, "unsere Art zu leben zu verteidigen", und diese Freiheit sehen die Kombattanten offenbar bedroht.

Um diese Art zu leben zu verteidigen, werfen sie sich in Camouflage, schwenken Fahnen, tragen Helme und dreschen mit Baseballschlägern auf alles ein, was ihnen im Weg steht: Absperrungen, Fenster, Türen, Polizisten. Mindestens fünfschrötige Gestalten, die rechtsradikalen Brüder von den Proud Boys und den Oath Keepers darunter, bilden eine Miliz innerhalb der mehrhundertköpfigen Menge. Sie wissen genau, dass die Medien lügen und sie alle gerade um ihren Präsidenten betrogen werden sollen. "Stop the steal!" skandieren sie, Schluss mit dem Wahlbetrug, und immer wieder- sie sind doch die wahren Patrioten - "U-S-A!"

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Eine halbe Fußstunde entfernt hält Trump eine Rede, schwadroniert von seinem Erdrutschsieg, klagt über mangelnde Unterstützung, fordert Mut und Stärke und kündigt an, mit seinen Anhängern zum Kapitol zu ziehen. Doch wie der Feldherr in einem Kabinettskrieg des 18. Jahrhunderts schickt er bloß die Seinen in die Schlacht und wartet in sicherer Entfernung ab, was passiert.

Es wird, jedenfalls in den Augen der Teilnehmer, ein Volksaufstand. In ihrer Selbstgerechtigkeit lassen die Sturmtruppen keinen Zweifel daran, dass sie Geschichte machen und dabei im Recht sind. Den Polizisten, die sie aufhalten wollen, werfen sie vor, dass sie die Eidbrecher seien, weil sie eine Usurpation gegen Recht und Gesetz unterstützten. Berauscht von ihrer eigenen Massenhaftigkeit stürzen sie los, in wenigen Minuten sind die kaum wehrhaften Polizisten überwältigt, der Sturmlauf kann beginnen. Sie prügeln sich den Weg frei, schlagen Scheiben ein, Türen splittern, es wirkt wie in einem Actionfilm.

Trump-Unterstützer versuchen am Tag des Aufstands, die Absperrungen niederzureißen. Im Film ruft jemand ekstatisch: "This is a motherfucking war zone!" (Foto: John Minchillo/AP)

Einer schreit ekstatisch: "This is a motherfucking war zone!" Ein Krieg wie im Kino, wie er mit dieser Überlegenheit in Afghanistan oder Irak einfach nicht geführt werden konnte. Ein anderer muss sich zwicken, so sehr überrascht ihn der Erfolg, "das passiert alles in echt!" Doch die Kämpfer scheinen von der von ihnen erzeugten Realität selber so wenig überzeugt, dass sie sie ununterbrochen filmen müssen - die Kameraden, das stoßweise Vordringen, die splitternden Scheiben. Das wilde Treiben will dokumentiert sein - für die Feigen, die daheim geblieben sind, für spätere Veteranentreffen, fürs ewige Angedenken. Sie sind ihre eigenen Kriegsberichterstatter, besser embedded als jeder Reporter.

Das Team um die Produzentin Haley Willis verzichtet fast ganz auf journalistische Bilder, Objektivität wird erreicht durch die kombinierte Subjektivität der Aufnahmen, der Kommentar aus dem Off ordnet den Ablauf der sechseinhalbstündigen Rebellion. Doch so bewundernswert die Leistung dieser "visuellen Investigation" ist, so erschreckend ist auch, was die Bilder zeigen. "Day of Rage" ist dann doch kein Spielfilm, sondern eine Dokumentation katastrophaler Ereignisse.

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