Ein Sachbuch über Chinas Größtbaustelle:Projekt des Jahrhunderts?

***BESTPIX*** Daily Life In Dunhuang

Stützpunkt der alten Seidenstraße: Crescent Lake nahe der chinesischen Oasenstadt Dunhuang

(Foto: Lintao Zhang/Getty Images)

Der älteste Trampelpfad der Globalisierung: Jonathan E. Hillman hat für sein Buch die "Neue Seidenstraße" besucht und kommt schwer ins Grübeln

Von Bernd Graff

Seidenstraße! Man denkt an endlose Karawanen mit Kamelen, die auf gefährlichen Routen Kostbarkeiten aus dem Orient nach Zentraleuropa bringen. Man sieht vor dem inneren Auge weite Steppen, Tundra, Taiga, Wüsten, zerklüftete Gebirgszüge in Ländern mit unaussprechlichen Namen, dazu wagemutige Händler und Wegelagerer, man spürt drohende Gefahr und lockende Exotik gleichermaßen. Man denkt die Seidenstraße immer als schier unendliche Strecke, die Mitteleuropa und den Mittelmeerraum auf dem Landweg mit Ostasien verbindet, um endlich an der Chinesischen Mauer anzukommen. Zentral-Eurasien geht hier nahtlos über in Zentral-Asien, die "Stans" liegen am Wegesrand: Afghanistan, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan, Turkmenistan Tadschikistan. Eine Märchenwelt also voller Oasen und Basare.

Nichts davon stimmt noch. Das ist das ziemlich ernüchternde Ergebnis einer Seidenstraßen-Begehung, die der Autor Jonathan E. Hillman, Mitglied der US-amerikanischen Denkfabrik Center for Strategic and International Studies, in einem Buch mit dem Titel "The Emperor's New Road" zusammengetragen hat.

Die Seidenstraße gilt als die historisch-zivilisatorische Schlagader, die Orient und Okzident miteinander verbindet. Manchen gilt sie als der älteste Trampelpfad der Globalisierung: Rom schaute nach Osten, China nach Westen. Ab dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung sind organisierte Bewegungen darauf verzeichnet. Nicht nur Gewürze, Nudeln, Glas, Wolle, Porzellan, Edelmetalle und unbekannte Spezereien wurden hier später hin- und hertransportiert, sondern immer schon auch Wissen, Religion, Kultur, Armeen und natürlich die Pest. Dabei ist die Seidenstraße gar keine "Straße", eher ein Geflecht von Routen, die ein mal mehr, mal weniger gesichertes Reisen ermöglichten.

Raub auf der Seidenstraße beschäftigte schon im Jahr 670 einen Gerichtshof, die Akten wurden nach China geliefert

Vor allem juristisch ließ man sich hier auf Abenteuer ein: Überliefert ist der Fall eines Mannes aus dem heutigen Iran, der im Jahr 670 vor seinem heimischen Gericht erfolgreich einen Chinesen darauf verklagte, ihm die 275 Ballen Seide wieder auszuhändigen, die man seinem gemeuchelten Bruder auf einer dieser Routen geraubt hatte. Der Kläger befand sich allerdings 6700 holprige Landkilometer vom Angeklagten entfernt. Was aus den Ballen wurde, ist nicht überliefert. Dass man überhaupt von dem Fall weiß, liegt daran, dass Archäologen in einem Grab im chinesischen Turfan die Gerichtsunterlagen, Reste der persischen Rechtsprechung, entdeckten. Sie waren - über die Seidenstraße - nach China geliefert worden, wo sie als Begräbniskleidung für die dortigen Toten dienten: Man wickelte Leichen in sie ein wie tote Fische in alte Zeitungen.

Die politischen Unwägbarkeiten auf der langen Route sorgten für unterschiedliche Auslastungen: Nach dem Niedergang Roms und dem Aufstieg Arabiens wurde die Seidenstraße zunehmend unsicher, im 13. und 14. Jahrhundert gab es eine Wiederbelebung, Marco Polo war ihr prominentester Nutzer. Immer aber war es so, dass derjenige, der über weite Strecken hinweg Verbindung halten und kommunizieren konnte, auch die Kontrolle über die Region besaß. So ist es bis heute.

Das ist einer der Gründe dafür, dass beim Befahren der Seidenstraße stets neueste Technik zum Einsatz gekommen ist. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert trachteten vor allem die europäischen Großmächte danach, über Infrastrukturprojekte und Investitionen in Straßen- und Eisenbahnverbindungen, die Seidenstraße ihren imperialen Gelüsten dienstbar zu machen. Der britische Geograf Halford Mackinder erklärte vor dem Ersten Weltkrieg die zusammenhängenden Kontinente Europa, Asien und Afrika sogar zur "Weltinsel", in deren Zentrum das "Herzland" ("Pivot Area") des ganzen Globus liege, das sich von der Wolga bis zum Jangtsekiang und vom Himalaya bis zur Arktis erstrecke.

Ist die "Neue Seidenstraße", mit deren Bau China 2013 begann, das Projekt des Jahrhunderts?

Die Seidenstraße verlor im Laufe des 20. Jahrhunderts an Strahlkraft. Dazu trugen die Weltkriege und die anschließend zu hermetischen Blöcken erstarrten Großmächte mit ihren Trabanten ebenso bei wie die extreme Zunahme des globalen Flugverkehrs und der internationalen Schifffahrt. Das änderte sich jedoch schlagartig 2013, als China ein groß angelegtes Projekt ausrief, die "Belt and Road Initiative" (BRI). Verkündet wurde die "Neue Seidenstraße". Sie sollte ein interkontinentales Handels- und Infrastrukturnetz schaffen, das unter der Federführung Chinas 60 Länder in Afrika, Asien und Europa miteinander verbindet. Schon im Mai 2017 erklärte der chinesische Präsident Xi Jinping angesichts der Fortschritte, die angeblich bereits gemacht worden seien, die chinesischen Aktivitäten zum "Projekt des Jahrhunderts".

Jonathan E. Hillman wollte das alles nicht unbesehen glauben und ist deswegen die Route ein Stück abgefahren. Er hat einige der Orte, die bereits als vorbildlich eingestuft wurden, bereist und erforscht. Sein Report ist ernüchternd: "China, das immer in der Rolle des Schwächeren war", so schreibt er, "kämpft nun mit den Herausforderungen seiner wachsenden Macht. Doch es folgt nur den Fußstapfen der ehemaligen Imperial-Mächte und wiederholt ihre Fehler." Wirklichkeit und vollmundige Rhetorik seien nicht in Einklang zu bringen. Schon in Korgas, einer chinesischen Stadt an der Grenze zu Kasachstan und nun mutmaßlicher Eisenbahnknotenpunkt mit dem Beinamen "neues Dubai", erhält der Tourist inmitten unberührter brauner Steppe nur einen Schutzhelm statt des Tickets für den Hochgeschwindigkeitszug nach Europa. "Fahren hier überhaupt Züge?", fragt Hillman seinen Begleiter. "Heute jedenfalls nicht", erhält er zur Antwort.

Ein Sachbuch über Chinas Größtbaustelle: Keine gebündelten Kräfte? Container im chinesisch-kasachischen Logistik-Terminal in Lianyungang.

Keine gebündelten Kräfte? Container im chinesisch-kasachischen Logistik-Terminal in Lianyungang.

(Foto: Geng yuhe/ Imaginechina)

Überall auf seiner Route entdeckt Hillman diese Diskrepanz zwischen der im Westen bereits gefürchteten Offensive Chinas und den eher bescheidenen, oft auch chaotischen, von Zufällen und lokalen Machtinteressen geprägten Zuständen, die mehr einem "Shakespeare-Drama gleichen als einem Spionagethriller". So finanziert China angeblich den Hafen von Hambantota in Sri Lanka, tatsächlich aber wohl nur die hoch verschuldete Lokalpolitik, mit völlig ungewissem Ausgang. Hillman entdeckt in China keine gebündelten Kräfte, die klar ausgerichtet nur das BRI-Ziel verfolgen, sondern "unterschiedlichste Interessensgruppen, die ihre eigenen Pläne schmieden und kaum etwas mit den offiziell verlautbarten Langzeitplänen und Großstrategien am Hut haben". Außenstehende Beobachter und Experten sähen also Strategie, wo gar keine ist. Das liege natürlich auch daran, dass China vollmundig für die nächsten Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, planen könne, während westliche Politiker damit kämpften, die nächste Woche und die nächste Wiederwahl zu überstehen.

Dennoch verharmlost Hillman Chinas Aktivitäten keineswegs als leere Großmannssucht. "Chinas Suche nach Marktzugängen, sein Versuch von Einflussnahme und der unverkennbar militärische Fußabdruck, den es überall hinterlässt, erinnern an das klassische Verhalten aufstrebender Mächte." Doch diese Parallelen zu sehen, heiße eben nicht, "sie als harmlos abzuschreiben. Im Gegenteil: Die Echos sollten zur Vorsicht gemahnen." Hillman spricht, obwohl sein Buchtitel des "Kaisers neue Kleider" paraphrasiert, von einem "stetig heranwachsenden Imperialismus". Würde China sich nur ein wenig mehr fokussieren, dann würde aus dem derzeitigen "Kreditgeber für hoffnungslose Fälle" ("Lender of last Resort") in weiten Teilen der Welt tatsächlich ein bevorzugter, einflussreicher Partner werden. Doch auch für das China unserer Tage gilt: Auf der Seidenstraße haben sich im Lauf der Jahrtausende schon viele verirrt.

Ein Sachbuch über Chinas Größtbaustelle: Jonathan E. Hillman: The Emperor's New Road. China and the Project of the Century. Yale University Press, New Haven und London 2020. 304 S. 22,99 Euro.

Jonathan E. Hillman: The Emperor's New Road. China and the Project of the Century. Yale University Press, New Haven und London 2020. 304 S. 22,99 Euro.

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