Missbrauchskomplex Münster:"Das übersteigt alles, was dieser Kammer bislang vorgelegt wurde"

Lesezeit: 4 min

Adrian V., hier zwischen seinen beiden Verteidigern, wartet am Dienstagmorgen auf die Entscheidung des Gerichts. (Foto: GUIDO KIRCHNER/AFP)

Adrian V. und drei Mittäter wurden vom Landgericht Münster zu Haftstrafen mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Sie hatten zwei Jungen in einer Gartenlaube tagelang vergewaltigt. Auch die Mutter des Hauptangeklagten muss ins Gefängnis.

Von Jana Stegemann

Die Gartenlaube auf Parzelle 30 der Kleingartenanlage "Am Bergbusch" in Münster-Kinderhaus gibt es nicht mehr. Sie wurde abgerissen - und trotzdem steht sie noch immer symbolisch für ein unfassbares Verbrechen. Ein Verbrechen, über das der Ermittlungsleiter Joachim Proll nach Bekanntwerden des Falls sagte, die Polizei habe in einen Abgrund geschaut: "Das weckt in einem Wut und Hass für diese Menschen - wenn man sie überhaupt Menschen nennen darf."

Wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 29 Fällen muss der Hauptangeklagte Adrian V. nun 14 Jahre ins Gefängnis und danach wegen Wiederholungsgefahr in Sicherungsverwahrung, urteilte das Landgericht Münster am Dienstag. Der 28-Jährige gilt als Schlüsselfigur in dem Prozess mit weiteren vier Angeklagten.

Missbrauchsbeauftragter im Interview
:"Es kümmert sich meist niemand"

Wie lässt sich sexualisierte Gewalt an Kindern verhindern? Der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig erklärt, warum schärfere Strafen auch Nachteile für Opfer haben können, und was sich in der Gesellschaft ändern muss.

Von Edeltraud Rattenhuber

Die Urteile für die anderen drei Männer lauten: zehn Jahre Haft für einen 36-jährigen Mann aus Hannover, elf Jahre und sechs Monate für einen 43-Jährigen aus Schorfheide in Brandenburg und zwölf Jahre für einen 31-Jährigen aus dem hessischen Staufenberg. Auch für diese Männer ordnete das Gericht anschließende Sicherungsverwahrung an und folgte damit weitestgehend der Forderung der Staatsanwaltschaft. Wegen Beihilfe soll die Mutter von Adrian V. für fünf Jahre ins Gefängnis. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig.

Diese Gartenlaube war einer der Haupttatorte im Missbrauchskomplex von Münster. (Foto: Guido Kirchner/dpa)

Der Vorsitzende Richter Matthias Pheiler beschrieb in seiner Urteilsbegründung die zum Teil schweren Missbrauchstaten, verzichtete aber zum Schutz der Opfer auf Details der Vergewaltigungen. "Das übersteigt alles, was dieser Kammer bislang vorgelegt wurde", sagte Pheiler, ein erfahrener Richter. Die Taten seien "absolut verstörend", sie seien "gewohnheitsmäßig und mitleidslos" erfolgt. All das nehme Adrian V. "einfach grinsend zur Kenntnis", hält ihm der beisitzende Richter vor. Er hatte zum Ende der knapp zweistündigen Urteilsverkündung von Pheiler übernommen und sich noch einmal nachdrücklich an die Angeklagten gewandt: "Im Grunde dürfen Sie nie mehr raus." Prozessbeobachter und das Gericht hatten schon während der Beweisaufnahme bemerkt, dass Adrian V. immer wieder mit einem Grinsen auf der Anklagebank saß.

In der Gartenlaube in Münster wollte Adrian V. im April 2020 - Deutschland befand sich im ersten Teillockdown - noch seinen 27. Geburtstag feiern. Dafür hatte der IT-Spezialist zuvor über dem Doppelbett und dem Stockbett in der Gartenhütte HD-Kameras angebracht. Seinen damals zehnjährigen Stiefsohn nahm er mit. Aus Schorfheide reiste für das Wochenende der Pflegedienstleiter und dreifache Vater Enrico L. an, aus Hannover EDV-Experte Marco S. und aus Staufenberg Handwerksmeister Tobias S., der seinen fünfjährigen Sohn in die Gartenlaube mitbrachte. Auch einer von Adrian V.s Gästen hatte Geburtstag.

Drei Tage lang fielen die vier erwachsenen Männer "abwechselnd über Stunden auf das Schlimmste", wie Polizist Joachim Proll damals sagte, über die beiden kleinen Jungen her. Sie taten ihnen schwerste sexualisierte Gewalt an. Teilweise sollen die Jungen von den Männern mit einen toxischen Lösungsmittel, das Herz- oder Atemstillstände auslösen kann, betäubt worden sein. Adrian V.s Mutter Carina V., eine 46-jährige Kita-Erzieherin, hatte ihrem Sohn den Schlüssel zu ihrer Gartenlaube gegeben - im Wissen, was dort passieren würde. Davon ist das Gericht überzeugt. An einem Morgen habe Carina V. die Männer in der Gartenlaube zum Frühstück besucht, das ist auf Videoaufnahmen zu sehen. Sie nahm "heiter" teil an einem Austausch, den der Richter als "Gespräch mit klaren pädosexuellen Inhalten" bezeichnet: "Sie wusste von der Pädophilie ihres Sohnes, sie war über den Missbrauch informiert." Nachweisen konnte das Gericht Carina V. aber nicht, dass sie wusste, dass die Männer die Jungen auch betäubt hatten. Das wurde strafmildernd bewertet.

Öffentlichkeit war im Prozess weitestgehend ausgeschlossen

30 Stunden lang wurden mit einer Videokamera die Vergewaltigungen in der Gartenlaube gefilmt. Die Aufnahmen wurden zum wichtigsten Beweismittel in der juristischen Aufarbeitung eines der umfangreichsten Kindesmissbrauchskomplexe Deutschlands. Nach Lügde und Bergisch Gladbach ist Münster der dritte aufgedeckte Missbrauchskomplex in zwei Jahren in Nordrhein-Westfalen.

Seit Herbst wurde vor dem Landgericht Münster verhandelt, zumeist war die Öffentlichkeit vom Verfahren ausgeschlossen. Die Akten umfassen 20 000 Seiten. Nach mehr als 50 Verhandlungstagen, an denen mehr als 70 Zeugen und sieben Sachverständige gehört wurden, endete der Mammutprozess nun mit einem Schuldspruch für die vier angeklagten Männer und die Frau.

Adrian V. soll über Jahre seinen Stiefsohn quer durch Deutschland gefahren haben - und fremden Männern, die er übers Internet kennengelernt hatte, in Ferienwohnungen, in Autos und der eigenen Wohnung zum sexuellen Missbrauch überlassen haben. Nach Einschätzung des Gerichts handelt es sich bei den Taten, die ihm nachgewiesen werden konnten, nur "um die Spitze des Eisbergs".

Es habe den Anschein, "als sei schwerer sexueller Missbrauch der traurige Alltag dieser Kinder gewesen", sagte der Vorsitzende Richter. Insbesondere im Frühjahr 2020, als sie wegen des coronabedingten Lockdowns nicht in die Schule konnten, habe die Handlungsdichte nochmal zugenommen.

Adrian und Carina V. hatten im Prozess zu den Vorwürfen geschwiegen; Enrico L. und Marco S. hatten die Taten teilweise eingeräumt.

Die Mutter des heute elfjährigen Jungen, die Lebensgefährtin von Adrian V., ist in einem anderen Verfahren wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch angeklagt, weil sie von dem Geschehen gewusst haben soll.

Zudem verbreitete Adrian V. im Netz gigantische Mengen Fotos und Videos, auf denen Missbrauchshandlungen zu sehen waren. Dafür hatte er sich eigens einen gekühlten Serverraum im Keller eingerichtet - und Strom von seinen Nachbarn gestohlen, für den er den Stadtwerken Münster einen Schadenersatz von 100 000 Euro zahlen musste. Der heute 28-jährige Adrian V. war den Behörden schon früher aufgefallen, 2016 und 2017 war er bereits wegen Besitz und Verbreitung kinderpornografischer Schriften verurteilt worden.

Seit Auffliegen des Missbrauchskomplexes Münster sind allein am Landgericht Münster zwölf Anklagen gegen elf Männer und zwei Frauen erhoben worden. Sechs Männer sind bereits verurteilt worden, drei davon rechtskräftig. Die Ermittlungskommission "Rose" der Polizei Münster hat nach zwölfmonatigen Ermittlungen mehr als 50 Tatverdächtige in dem Fall ermittelt - etwa 30 von ihnen sitzen deutschlandweit in Haft.

"Es liegen weitere Hinweise auf Opfer und Täter vor", sagte eine Sprecherin der Polizei Münster. Erst vor Kurzem hatte sich nach einer Öffentlichkeitsfahndung ein Mann den Behörden in Berlin gestellt. Von den 1400 beschlagnahmten IT-Asservaten haben die Ermittlerinnen und Ermittler bislang 800 ausgewertet. Am Landgericht Münster sind zwei Staatsanwälte noch immer ausschließlich mit der Bearbeitung des Münster-Falls befasst.

Aus Parzelle 30 der Kleingartenanlage soll nun eine öffentliche Streuobst-Wiese werden. Im Frühjahr hatten die Kleingärtner dort 15 Bäume gepflanzt.

Mit Material der dpa

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMeinungOpferschutz und Transparenz
:Ein Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Der Schutz von minderjährigen Opfern ist der häufigste Grund dafür, dass eine Berichterstattung aus dem Gerichtssaal verboten wird - so auch beim Prozess um den Missbrauchskomplex in Münster. Doch die Abschottung hat auch Kehrseiten: Sie kann dem Vertrauen in den Rechtsstaat schaden.

Von Annette Ramelsberger

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: