Dänemark bei der Fußball-EM:Die größte Lücke des Landes

Seit Christian Eriksen fehlt, spielt für Dänemark der 21-jährige Mikkel Damsgaard - und zeigt sein großes Talent, das schon in noch jüngeren Jahren sein Nationaltrainer Kasper Hjulmand förderte.

Von Sebastian Fischer

Es muss ihm schon etwas surreal vorgekommen sein. Einerseits war es eine der verheißungsvollsten Gelegenheiten seiner jungen Karriere, sein viertes Länderspiel, sein erstes bei der Europameisterschaft, gleich in der Startelf. Doch unter diesen Umständen?

"Ich habe zu ihm aufgeschaut, als ich jünger war", hat Mikkel Damsgaard dieser Tage der dänischen Nachrichtenagentur Ritzau erzählt, er sei "von ihm inspiriert worden, zu hundert Prozent". Es sei schon unglaublich gewesen, mit Christian Eriksen gemeinsam beim Nationalteam zu sein, ihn aus der Nähe beim Training zu sehen. Und dann spielte Damsgaard plötzlich, weil Eriksen fehlte.

Dänische Erinnerungen an 1992

Die Geschichte der dänischen Nationalmannschaft bei dieser Europameisterschaft, die Siegesserie, die Vergleiche mit Dänemarks sensationellem EM-Triumph von 1992 weckt und das Team bis ins Halbfinale an diesem Mittwoch gegen England im Londoner Wembley-Stadion geführt hat, ist von einer Emotionalität geprägt, die manchmal beinahe überfrachtet wirkt. Mittelfeldspieler Pierre-Emile Höjbjerg weinte nach dem 2:1 gegen Tschechien im Viertelfinale. "Wenn wir in zehn, 15 Jahren zurückschauen, dann werden wir uns fragen: Was war da los? Und sagen: Es war verrückt", sagte Trainer Kasper Hjulmand.

Der Coach, für seine einfühlsame Moderation einer unvergleichbar schwierigen Situation gelobt, ergänzte die Geschichte zu Beginn dieser Woche in einer Pressekonferenz um eine weitere persönliche Anekdote. Er habe einst seinen Onkel durch einen Herzinfarkt auf dem Fußballplatz verloren, berichtete er - ein Herzstillstand war es, den Christian Eriksen, 29, im Auftaktspiel gegen Finnland erlitt.

Dänemarks bester Spieler überlebte, die Welt nahm Anteil, seitdem haftet den Partien seiner Kollegen die schier märchenhafte Überhöhung an, und so ist es auch mit den Weiterungen, die sich daraus ergeben. Damsgaard, 21, war natürlich schon vor der EM ein großes Talent, ein technisch begabter Flügelspieler, mit ersten Erfolgen bei Sampdoria Genua in Italien und einer vielversprechenden Zukunft. Er war auch schon vorher jener Spieler, den Hjulmand bereits als Teenager förderte. Doch ohne das Drama um Eriksen hätten das bei diesem Turnier womöglich die wenigsten mitbekommen.

Damsgaard, einst von seinem Vater in Jyllinge trainiert, einem früheren Fischerdorf 40 Kilometer westlich von Kopenhagen, wurde als Elfjähriger vom FC Nordsjaelland entdeckt, angeblich zufällig, weil der Scout für einen anderen Spieler da war. Schon als 17-Jähriger lief er dann für den dänischen Erstligisten auf, bei dem damals Hjulmand als Trainer arbeitete.

Für den Coach ist es bei dieser EM nicht nur emotional, sondern auch fußballerisch eine anspruchsvolle Aufgabe, Eriksen zu ersetzen. Er musste das System verändern. Zwar legt Hjulmand viel Wert auf Variabilität, seit er im vergangenen Jahr Dänemarks Nationalteam übernahm, ein Plan ohne den besten Spieler war aber natürlich ehernicht vorgesehen. Der frühere Trainer von Mainz 05 überlegte sich also einen neuen Plan, er beinhaltete den jüngsten Spieler. Und der Plan funktionierte.

Seit dem zweiten Turnierspiel gegen Belgien, das noch mit 1:2 verloren ging, liefen die Dänen immer mit Dreier- statt Viererkette in der Abwehr auf. In der defensiven Mitte trugen Thomas Delaney von Borussia Dortmund und Höjbjerg viel Verantwortung. Das Spiel über die Flügel wurde forciert. Und auf der linken Seite, vor dem furiosen Außenverteidiger Joakim Maehle von Atalanta Bergamo, der gegen Tschechien ein Tor mit einer Flanke mit dem rechten Außenrist vorbereitete, lief seitdem stets Damsgaard auf. Nicht als Eriksen-Ersatz, sondern in seiner eigenen Rolle, variabel, auch mal auf der rechten Seite, dribbelstark, mutig.

Wenn Hjulmand über Damsgaard spricht, hebt er dessen Gefühl für Ball und Raum hervor, das es schon immer so habe wirken lassen, als hätte er ein bisschen mehr Zeit als seine Gegner, als sei er "einen Schritt voraus". Eine Szene, bei der das während dieser EM besonders ins Auge fiel, war sein Traumtor zum 1:0 beim 4:1 im entscheidenden Gruppenspiel gegen Russland. Bevor ihn sein Gegenspieler stellen konnte, hatte er nach zwei Ballkontakten schon abgeschlossen. Russlands Torwart sprang dem Fernschuss, der sich ins Tor senkte, gar nicht mehr hinterher.

"Damsinho", so wird Damsgaard genannt. In Nordsjaelland haben sie ihm eine eigene kleine Dokumentation gewidmet, als er sich im Sommer 2020 nach Genua verabschiedete, "Il Ragazzino" heißt sie, der kleine Junge, er wirkt ja immer noch schmächtig. Nordsjaellands Jugendcheftrainer erzählt darin von einem Turnier in der Schweiz: Sogar die Eltern der Spieler des Gegners, Benfica Lissabon, hätten Damsgaard applaudiert.

Bei Sampdoria, unter Trainer Claudio Ranieri, spielte er in seiner ersten Saison 35 Mal, 18 Mal davon in der Startelf, meist links vorne, mal in der Mitte oder rechts. Zwei Tore schoss er, vier bereitete er vor. Ranieri widersprach sich mit einem wohlgemeinten Lob selbst. "Er ist fraglos ein Wunderkind, aber setzen wir ihn nicht zu sehr unter Druck", sagte der Coach, der Genua zum Saisonende verließ. Damsgaard soll bleiben, oder viel Geld einbringen, wenn es nach Sampdorias Präsident Massimo Ferrero geht. Der Zeitung Il Secolo sagte er: "Haben Sie sein Tor gegen Russland gesehen? Ich sage Ihnen, dass sein Preis jetzt 30 Millionen Euro beträgt. Aber wenn er noch einmal trifft, erhöht er sich auf 40 Millionen Euro."

Damsgaard hat zwar nicht noch mal getroffen, aber sich als Stammspieler bewährt. Beim 4:0 im Achtelfinale gegen Wales bereitete er ein Tor vor. Es wäre vermessen, ihm zu attestieren, dass er die Lücke gefüllt hat, die Eriksen hinterließ. Vielmehr ist es ein Gemeinschaftswerk, das Dänemarks Spiel funktionieren lässt.

Die Partie gegen England wird nun fraglos die schwerste Probe, schon gegen Tschechien waren die Dänen in der zweiten Halbzeit nicht mehr überlegen. Damsgaard, von Hjulmand bislang in jedem Spiel ausgewechselt, ging da schon nach 59 Minuten vom Platz. Gegen Englands physisch so starke Abwehr ist auch denkbar, dass der robustere Yussuf Poulsen von RB Leipzig seinen Platz einnimmt.

Seinen Platz in der Turniergeschichte hat Damsgaard aber sicher. Mit seinem Tor gegen Russland hat er Flemming Povlsen als jüngsten Endrunden-Torschützen des Landes abgelöst, den Europameister von 1992. "Zum Glück", sagt Povlsen. "Wenn ich so einen Rekord abgeben muss, dann an ihn."

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