Aktuelles Lexikon:Fortsetzungsroman

Wie große Literaten plötzlich ein großes Publikum erreicht haben.

Von Marie Schmidt

Zu den verdrängten Familiengeheimnissen der Gutenberg-Ära gehört, dass die schöne Literatur ihre größten Erfolge den Tageszeitungen zu verdanken hat. Es gäbe den Roman, wie wir ihn heute kennen, gar nicht, wenn nicht die frühe Massenpresse ihr Publikum mit großen Erzählungen in appetitlichen Häppchen versorgt hätte. Der Fortsetzungsroman verschaffte den Literaten des 19. Jahrhunderts ein neues Geschäftsfeld, machte sie unabhängig von alten Mäzenen, aber abhängig vom Geschmack des großen Publikums. Eine scharfe Trennung zwischen hoher und populärer Literatur konnte sich bald keiner mehr leisten: Storm, Raabe, Fontane, Balzac, Dumas, Flaubert, Tolstoi, Dostojewski, Dickens, Doyle, Melville - alle schrieben sie in Fortsetzungen für die Presse. Das Schreiben in kürzeren, anschlussfähigen Einheiten mit Cliffhanger-Momenten erneuerte das Genre. Und indem sie in ihren Romanen die Gesellschaft spiegelten, für die sie schrieben, wurden die Romanciers zu den scharfsinnigsten Zeitgenossen. Große Zeiten für die Literatur. Dass Horst Seehofer aus dem Streit über Lücken und Fehler in der Bildungsbiografie und den Büchern von Annalena Baerbock "keinen Fortsetzungsroman" machen will, ist insofern schade, was die folgenden Kapitel des Wahlkampfs angeht, aber verständlich: Wie so ein Roman ausgeht, weiß oft nicht einmal der Autor, bevor er die letzte Folge geschrieben hat.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: