Haute Couture:Läuft wieder!

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Mit den Pariser Couture-Schauen findet die erste richtige Modewoche seit Beginn der Pandemie statt. Und Balenciaga macht alles radikal anders.

Von Silke Wichert

Ein bisschen mehr Mühe hätten sie sich schon geben können. Vielleicht mal die Wände streichen bei all den Wasserflecken oder wenigstens die versifften Vorhänge waschen. Die junge Frau schaut leicht irritiert und rückt den Saum ihres Kleids vom schmutzigen Gardinenstoff weg. Was diese Besucherin der aufgeregt erwarteten Couture-Wiederbelebung von Balenciaga im historischen Salon auf der Avenue George V. offensichtlich nicht weiß: Es sieht hier zwar so aus, als sei die Zeit stillgestanden, seitdem der Couturier Cristóbal Balenciaga sein Atelier 1968 dichtmachte. Aber bis vor ein paar Monaten waren das hier topgepflegte Büroräume über einer Mode-Boutique. Alles wurde erst jetzt vollkommen absichtlich speckig gemacht. Auch die goldenen Stühle sind angeordnet wie damals beim großen Meister. Nur die Aschenbecher von früher durften leider nicht mit in die aseptische Neuzeit.

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(Foto: Balenciaga)

Steht gut: "Swing-back" Kostüm in orangefarbener Gabardine.

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(Foto: Balenciaga)

Radikal: Demna Gvasalias Vision für die Wiederbelebung der Couture bei Balenciaga.

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(Foto: Balenciaga)

Couture-Hoodie für fünfstellige Summe? Klar, wenn er handgemacht und aus Kaschmir ist.

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(Foto: BFRND)

Männer-Couture? Aber sicher, allein deshalb, damit Gvasalia seine Balenciaga-Anzüge selbst tragen kann.

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(Foto: Balenciaga)

Die Berliner Kunstsammlerin Karen Boros als Model bei Balenciaga.

Balenciaga-Designer Demna Gvasalia wollte also für sein Debüt eine genaue Reproduktion der Vergangenheit schaffen - um dann vor dieser Kulisse seine Vision der Zukunft des altehrwürdigen métiers durch die Räume zu jagen. Und zwar auf die radikalste Weise. Spoiler Alert: Der Couture-Hoodie ist geboren. Ob das den persönlichen Traum oder Albtraum bedeutet, kommt auf die Perspektive an. Und aufs Portemonnaie.

Aber vielleicht bleiben wir erst mal kurz in der Gegenwart. Corona hat die Schauen die letzten 18 Monate weitgehend lahmgelegt beziehungsweise von ihrem Lieblingsspielplatz - große Bühne, großes Drama, großes Alles - auf den kleinen Bildschirm verbannt. Die letzten Monate hat man sich die neue Realität schöngeredet, das Schauensystem war ja ohnehin überholt, die Zukunft ist digital!

Echte Schauen sorgen immer noch am besten für echt gute Quoten

Jung nach Maß: Sogar bei Chanel darf Couture nun bauchfrei sein. (Foto: Chanel)

Aber wen interessiert das Geschwätz von gestern, wenn endlich wieder was los ist in der Mode und die ersten Häuser Live-Schauen mit echtem Publikum präsentieren? In Sachen Aufmerksamkeitswert, also Einschaltquote auf Social Media, ist das ach so gestrige Format nämlich dummerweise immer noch unschlagbar. Geradezu besoffen vor Glück fand sich die Branche also am vergangenen Sonntag in Paris im Schoß der Familie ein. Anna Wintour saß zum ersten Mal wieder in der ersten Reihe und busselte ihre immer weniger werdenden europäischen Vogue-Kollegen. Lewis Hamilton und Jessica Chastain kamen, Kanye West trug einen bedruckten Stoffsack über dem Kopf. Es gab Menschenaufläufe, Fotografengeschrei, glamouröse Dinnerpartys auf dem Dach des Centre Pompidou. Alles wie früher!

Und dazu kam: Bei dieser ersten richtigen Wiederaufführung - netter Zug des Corona-Wellen-Zyklus - wurde nicht einfach bloß Prêt-à-porter gespielt, sondern Haute Couture gegeben. Bekanntlich der ganz große Faltenwurf. Die höchste Schneiderkunst, das Teuerste vom Teuersten. Modisch allerdings auch gähnend langweilig. So hieß es jedenfalls eine ganze Weile. Die Couture wurde schon so oft zu Grabe getragen, dass man damit ein ganzes Bestattungsunternehmen unterhalten konnte. So wirklich schließen ließ sich der Sargdeckel aber nie, und die letzten Jahre wurde immer häufiger von einem Revival geredet. Chanel-CEO Bruno Pavlovsky verriet einmal, dass allein 2014 das Geschäft um 20 Prozent gewachsen und das Atelier komplett ausgebucht sei.

Giorgio Armani präsentierte seine Privé-Kollektion in der italienischen Botschaft endlich wieder vor Publikum - und entzückten Kundinnen. (Foto: ©Stefano Guindani / SGP)

"Wir haben auch jetzt wieder so viele vielversprechende Anfragen, dass wir bald wieder Vor-Corona-Niveau erreichen sollten", sagt Pavlovsky. Die Kunden seien heute jünger, globaler, diverser, der größte Zuwachs kommt, wenig überraschend, aus Asien. Von Armani heißt es sogar, selbst während der Pandemie habe man keine Einbußen gehabt. Denn wenn die Kundin nicht zum Berg aus Seidengaze kommen kann, dann muss der eben zu ihr kommen. Die Schneiderinnen reisten für die Anproben teilweise zu den Kundinnen nach Hause. Chanel flog die Kollektion nach New York, Tokio, Hongkong. Termine wurden sogar per Video gemacht, sagt Pavlovksy. Genäht wird am Ende aber natürlich immer noch komplett von Hand, in Paris. Studios müssen außerdem ein mindestens 15-köpfiges festes Team haben, auch das eine Vorgabe der "Fédération", des Berufsverbands, der über den heiligen Couture-Gral wacht.

Kleider für sechsstellige Beträge? Mais oui!

Zu haben ist der Spaß kaum unter 20 000 Euro. Dior-Hochzeitskleider können sogar an der Eine-Million-Marke kratzen. Wofür ernsthaft solche Summen ausgeben? "Für das wirklich Besondere", sagt Demna Gvasalia ein paar Tage vor seinem Couture-Debut am Telefon in seinem Wohnort nahe Zürich. In der modernen Warenwelt gebe es alles nur zwei Klicks weit entfernt, jeder hat Zugang zu allem. "Die Mode ist zu einer Cashcow geworden, mit der du auf einfache Art viel Geld machen kannst, mit T-Shirts und Sneakern." An dieser Stelle muss der 40-Jährige natürlich selbst kurz lachen. Denn wer hat's erfunden? "Natürlich, im Luxuskontext bin zu einem großen Teil ich dafür verantwortlich", sagt Gvasalia. "Aber es ist nicht das, worum es in der Mode eigentlich geht, jedenfalls nicht für mich." Die Couture sei nicht überholt, sondern wichtiger denn je. "Für das Überleben und die Entwicklung des modernen Modedesigns." Das Atelier als Gegenpol zur industriellen Produktion, als Labor und kreative Spielwiese ohne wirtschaftliche Grenzen.

Seine Chefs haben ihm deshalb erfahrene Hände von den anderen Couturehäusern abgeworben. Gvasalia hat aber, wie er erzählt, auch mit jungen Leuten aus dem eigenen Team gearbeitet, um für einen neuen, zeitgemäßeren Look zu sorgen. Dass der keine Gendernormen mehr kennt, sei für ihn selbstverständlich. "Ich will hier meine eigene Vision der Couture abgeben."

Die sieht jetzt also so aus: Anzüge mit kastiger Schulterpartie, tatsächlich Jeans und ein Hoodie mit BB-Stickereien. Diese ersten Looks seiner Präsentation sind klassisches Gvasalia-Vokabular, nur eben alles handgemacht und aus anderen Materialien. Kaschmir, Seidenchiffon, die Nieten sind aus echtem Silber, die Knöpfe aus Marmor. Dazu futuristische Hüte wie Lampenschirme, ein Tribut an Balenciagas ausladende Kreationen, aber in Hardcore cool.

Manche Entwürfe sind so üppig bestickt, dass sie laut scheppern

Dann dreht der Georgier die Lautstärke immer weiter auf, was durchaus wörtlich zu verstehen ist, obwohl in der Show - wie früher - keine Musik läuft. Das ist für das Publikum erst mal ein kurzer Schock, weil man plötzlich jedes Hüsteln hört, aber eben auch den Sound der Kleider. Das Reiben der Jeans, das leiste Knistern der bestickten Teile, das Rauschen der Mäntel, so groß wie Drei-Mann-Wurfzelte. Teilweise sind es moderne Interpretationen des Meisters, etwa ein silbernes Jacquardkleid, das sich im hinteren Teil als maßgeschneiderte schwarze Hose entpuppt. Bei diesem Trompe-l'Œil-Effekt entfährt den Gästen lautes Entzücken in verschiedensten Sprachen.

Gvasalia fängt stets mit der Silhouette an, jeder Kragen, jeder Faltenwurf am Trenchcoat - nichts passiert hier zufällig. Das Londoner V&A-Museum hat einmal Entwürfe von Cristóbal Balenciaga geröntgt, um die verborgenen Strukturen und kleinen Gewichte in den Kleidern offenzulegen. "Genau darum geht es in der Couture", sagt Gvasalia. "Um das, was du nicht siehst, sondern nur beim Tragen spürst." Das Schwierigste sei für ihn deshalb ein Couture-T-Shirt gewesen. Dessen potenzieller Käufer wird dann feststellen, dass der Seidenjersey gefüttert und von Hand gesäumt ist. Die Kundin für das von der Berliner Kunstsammlerin Karen Boros präsentierte Top - übliche Models sind nicht Gvasalias Ding - wird sich wie in einem magischen Trichter fühlen, der einfach immer aufrecht steht. Und die Trägerin des schulterfreien schwarzen Abendkleides wird hoffentlich wissen, dass die glitzernden Stickereien nur für sie in 500 Stunden per Hand angenäht wurden. Um anschließend wieder ein bisschen zerstört zu werden. Natürlich auch von Hand.

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(Foto: Ludwig BONNET-JAVA; JAVA-FASHION/DIOR/JAVA-FASHION/DIOR)

Maria Grazia Chiuri transportiert die Couture bei Dior zunehmend ins reale Leben.

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(Foto: JAVA-FASHION; JAVA-FASHION/DIOR)

Kleider zum Träumen gibt's bei Dior natürlich auch noch.

Das ist nicht die klassische Couture mit Schleifen und Rüschen, die die Welt sonst so im Kopf hat. Genau deshalb überschlagen sich die Reaktionen direkt nach der Show und auf Social Media vor Begeisterung. Tatsächlich versuchen aber auch die anderen Häuser, ihre höchste Kunst immer mehr in die Realität zu transportieren. Chanel zeigt bauchfreie Tops unter den Tweedkostümen, Hängerchen mit Hosen darunter. "Daywear macht mittlerweile die Hälfte unseres Couture-Geschäfts aus", sagt Bruno Pavlosvky. Das Gleiche darf man von Dior annehmen, wo die perfekt geschnittenen Jacketts von Maria Grazia Chiuri jetzt teilweise mit Matrosenkragen versehen sind und mit festem Schuhwerk präsentiert werden. Die Kleider zum Träumen mit langer Schleppe gibt es zum Schluss natürlich auch noch.

Debüts bei Balenciaga und Alaïa: Couture ist wieder spannend

Auch bei Alaïa geht es betont jung und sexy zu. Das Debüt des neuen Designers Pieter Mulier, lange die rechte Hand von Raf Simons, findet exakt vier Jahre nach der letzten Show des 2017 verstorbenen großen Azzedine Alaïa statt. Das Freiluftszenario auf der abgesperrten Rue Moussy vor dem Atelier ist nicht nur Corona geschuldet, sondern auch metaphorisch gemeint. Couture soll mehr auf die Straße.

"Body con" ist zurück: Pieter Mulier zeigte seine erste Kollektion für Alaïa. (Foto: Alaïa)

Das Schöne im Vergleich zur Prêt-à-porter: Hier sitzen in den Reihen tatsächlich viele Kundinnen. Bei Armani hat eine Dame aus Litauen Tränen in den Augen, als der 87-Jährige nach der Show in der italienischen Botschaft auf den Laufsteg tritt. "Er ist einfach, einfach ..." - ihr fehlen die Worte. "Armani!" Besser kann man es in Anbetracht der wie angegossen sitzenden Hosen wahrscheinlich nicht ausdrücken. Besonders gute Kunden bekommen gleich am nächsten Tag die ersten Termine im Atelier. Bei Chanel sind das viele Frauen mit einem "de" im Nachnamen, die sich im Handy Notizen machen. Geld spielt hier, offensichtlich, keine Rolle, nur der perfekte Sitz und das Wissen, dass dieses eine Teil ein absolutes Unikat ist. Wobei auch hier leicht modernisiert wird: Bei Chanel geben sie zu, die Nachfrage sei mittlerweile so groß, dass auch mal ein zweites Stück des gleichen Entwurfs angefertigt werde. Wenn die Kundinnen damit einverstanden sind und garantiert nicht in den selben gesellschaftlichen Zirkeln verkehren.

Schwer vorstellbar, dass die Jeansjacken und Anzüge bei Balenciaga Einzelstücke bleiben. Obwohl er selbst nicht viele Leute kenne, die sich diese Preise leisten könnten, gibt Demna Gvasalia zu. Jede Wette, dass ihm bald ein paar mehr einfallen.

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