Fußball-EM:In der Höhle der Löwen

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Jubel in Azurblau: Italiens Fußballer und ihr Trainer am Abend des 11. Juli 2021, nach dem gewonnenen Endspiel der Europameisterschaft gegen England im Wembley-Stadion. (Foto: Pool via REUTERS)

Italien hat gewonnen - und der Spirit dieser Mannschaft ist genau das, was Europa braucht. Drei Lektionen, die über den Fußball hinausgehen.

Kommentar von Stefan Ulrich

Italien ist reich an Menschen, die man als magische Realisten bezeichnen kann. Sie glauben an Wunder und machen diese mit Pragmatismus und harter Arbeit wahr. Roberto Mancini gehört in diese Liga.

Der Trainer der Azzurri, der italienischen Nationalmannschaft, gab seinen Spielern vor der Europameisterschaft den Auftrag, das Turnier zu gewinnen. Sie lächelten müde darüber. Am Sonntagabend ist daraus ein befreites Lachen geworden. Auf den Gesichtern der Spieler, die in Wembley, in der Höhle der Löwen, das Finale gegen England gewonnen haben. Und auf den Gesichtern der Menschen in ganz Italien, die sich nach Jahren der Krisen und einer Pandemie, die das Land besonders schlimm traf, endlich wieder freuen dürfen.

Mancini hat geschafft, woran der deutsche Trainer Joachim Löw gescheitert ist: eine Nationalmannschaft, die bei der Weltmeisterschaft vor drei Jahren am Boden lag, aufzurichten und ganz nach oben zu führen. Damit hat er seinem in Resignation und Zerrissenheit darbenden Land einen Moment der Zuversicht und Einheit geschenkt. Fast rührend schreibt der Corriere della Sera: "Diesen Monat hat die Nationalmannschaft Mancinis uns daran erinnert, dass es gar nicht so schlimm ist, Italiener zu sein."

Das belächelte Land

Das ist nicht ironisch gemeint. Es zeigt vielmehr, wie bitter Italien an sich zweifelt. Ein Italien, das von anderen Europäern gern bemitleidet oder belächelt wird. Fast ist vergessen, dass dieses Land oft ein Vorbild Europas war, das die Menschen beeindruckte und anzog. Dabei muss man nicht in die Zeit der Renaissance zurückgehen, der Grand Tour oder der Reise Goethes. Nach dem Zweiten Weltkrieg staunten die Europäer darüber, wie ein stark landwirtschaftlich geprägtes, eher rückständiges, vom Krieg zerstörtes und vom Faschismus diskreditiertes Land sein Wirtschaftswunder schaffte und in die Spitze der Industriestaaten vordrang. Und in den Sechziger- und Siebzigerjahren galt Italien als politisches und soziales Laboratorium, das nicht nur Intellektuelle faszinierte. Damals stand Italien im Zentrum Europas, ein vereintes Europa ohne eine tragende Rolle Roms war unvorstellbar.

Wie aus diesem - trotz terroristischer Gewalt - energiesprühenden, begeisternden Land das oft traurige Italien der vergangenen drei Jahrzehnte werden konnte, ist eine eigene Geschichte. Wobei anzumerken ist, dass am Niedergang nicht nur die politici schuld sind, über die die Italiener klagen, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger, die sich bereitwillig täuschen ließen und diese Politiker immer wieder wählten.

Doch nun kommen Mancini und die Azzurri daher, knüpfen, wenigstens für ein Turnier, an große Zeiten an und spielen Italien ausgerechnet im Land des Brexit ins Herz Europas zurück. "Italien hat mal wieder eine Lektion erteilt", sagt Leonardo Bonucci, der im Finale den Ausgleich erzielte und einen Elfmeter verwandelte. Eine Lektion, gewiss. Nur welche?

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Drei Lektionen für Europa

Im Grunde sind es drei Lektionen, die dieses Team lehrt, dem die ganz großen Spieler - Messi, Ronaldo, Lewandowski - fehlen. Erstens, und das ist keine Überraschung: Italien und seine Menschen sind Überlebenskünstler. Wenn die Lage am schlimmsten ist, alles zusammenzubrechen droht, wachsen sie über sich hinaus. Daher wäre es dumm, dieses Land je abzuschreiben, ob in Sport, Wirtschaft oder Politik.

Zweitens, das ist schon überraschender, hat Mancini der Squadra Azzurra eine Stabilität verliehen, von der Regierungen in Rom nur träumen können. Seit 2018, seit 34 Spielen, hat sein Team nicht mehr verloren. Das zeigt, dass der Sieg in der Nacht von Wembley eine robuste Basis hat.

Drittens, und darin liegt die größte Leistung des Trainers, hat er aus den Spielern eine Einheit geformt, deren fröhlicher Gemeinschaftssinn das Turnier prägte. Was Löw nicht gelang, vollbrachte Mancini. Italien strahlte auf dem Platz die Botschaft aus: Wir sind ein Team.

Der Himmel, azurblau

Es ist das, was diese Mannschaft vom verschmitzten, 36 Jahre alten Kapitän Giorgio Chiellini bis hin zum kraftstrotzenden, 22 Jahre jungen Torwart Gianluigi Donnarumma so erfolgreich macht. Und so sympathisch. Viele Europäer dürften den Italienern im Finale auch deswegen den Sieg gewünscht haben, weil sie spürten: Dieser Spirit ist genau das, was auch Europa braucht. "In Vielfalt geeint", lautet das Motto der EU. Die Azzurri haben vorgemacht, wie das geht. Auch Italien selbst kann an dieser Lektion wachsen. Denn an Einheit mangelt es dieser spät geborenen Nation sehr. Es ist ein Klischee, dass viele Italiener alles für ihre Familie tun, aber wenig für das Gemeinwohl. Leider ist es ein Klischee, das häufig stimmt.

Wenn es in den kommenden Monaten und Jahren darum geht, die gewaltigen Geldhilfen der EU zu nutzen, um Italien zu modernisieren und aus seiner langen Krise zu führen, wird sich zeigen, ob das Land aus der Lektion seiner Nationalmannschaft lernt. Doch das ist Schnee von morgen. Denn am Montag leuchtete der Himmel über ganz Italien azurblau.

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