Mitten in Starnberg:Wo geht's denn hier zum See?

Vorurteile sind eine feine Sache, vor allem wenn man wie im Fall der Kreisstadt aus dem Vollen schöpfen kann

Glosse von Peter Haacke

Vorurteile haben einen unschätzbaren Vorteil: Sie kosten nichts, erfordern kein Nachdenken und vereinfachen Zusammenhänge. Auf konkrete Umstände und Fakten kommt es bei der Beurteilung von Menschen und Situationen dann gar nicht mehr an. Viel wichtiger ist: Das Vorurteil als kleinerer Bruder der Meinung stärkt die eigene Bedeutsamkeit und das Selbstwertgefühl durch die Abwertung von anderen, stärkt Bindungen und die Zusammengehörigkeit der eigenen Gruppe. Wird das Vorurteil dann noch mit einem gemeinsamen Ritual besiegelt, ist es quasi Fakt - wie unlängst in Dießen, wo man bei einer Demo für Jugendliche, Kunst und Kultur mit heißen Tanzrhythmen gegen eine "Verstarnbergisierung" ankämpfen wollte.

Bitte, was? Verstarnbergisierung? Was soll denn das sein? Wer sich ernsthaft auf Spurensuche begibt, wird schnell feststellen: Es gäbe durchaus mehrere Aspekte. Da wären etwa die Reichen und Schönen. Denn der Landkreis Starnberg gehört seit Jahren zu den wohlhabendsten Regionen Deutschlands. Die Dichte an Einkommens-Millionären und Promis, absurd hohe Immobilien- und Mietpreise sowie eine Unzahl SUVs und Cabrios dürften Starnbergs Ruf in aller Welt nachhaltig gefestigt haben. Andererseits wäre da auch der jahrzehntealte Streit um Tunnel und Umfahrung, die alte Debatte um die Seeanbindung oder ums Gewerbegebiet: In allen Fällen geht es um dreistellige Millionensummen und könnte die verschuldete Stadt auf Jahrzehnte hinaus zur Dauerbaustelle machen. Oder geht es womöglich um die Bedeutung der "Münchner Badewanne", wie sie der Komödiant Harry G in seinem Internet-Clip über den Starnberger See höchst zutreffend beschreibt?

Die Wahrheit dürfte irgendwo zwischen Schickimicki und Sozialneid liegen. Tatsächlich lauten die am häufigsten gestellten Fragen: Wo geht's denn hier zum See? Und: Wo ist denn das Stadtzentrum? Manch Zugroaster möchte angesichts des zerklüfteten Stadtbildes zudem wissen, wie viele Bombenangriffe Starnberg im Krieg mitgemacht hat. Und wer dann noch feststellt, dass es am Bahnhofsbistro keine gegrillten Hummerschwänzchen gibt, weiß, dass Starnberg ohne See höchst durchschnittlich wäre.

In jedem Fall aber sollte man einen Aspekt nicht außer Acht lassen: Die Vermutung, dass Vorurteile fast immer falsch sind, kann selbst ein Vorurteil sein.

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