Tanz:Drehung nach oben

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Eine Ausstellung im Berliner Georg-Kolbe-Museum zeigt, wie modern die Tänzerinnen der Weimarer Republik waren.

Von Dorion Weickmann

Ein zartes Gesicht mit hohen Wangenknochen hebt sich der Kamera entgegen. Nur ein Wimpernschlag, dann zittern auch die Hände empor, die Arme schlängeln hinterher, zuletzt schraubt sich die ganze Gestalt hinauf ins Sonnenlicht. Doch die Kraft reicht nur für eine einzige Drehung, einen Moment zwischen Schmerz und Verzückung. Schon welkt die Erscheinung, gleitet wieder zu Boden, ergibt sich ins Unvermeidliche: "Tod tritt ein mit ganz offenem Mund", heißt es in den Notizen von Jo Mihaly. 1931 entwarf die damals knapp dreißigjährige Tänzerin das zweiminütige Solo "Blume im Hinterhof" und ließ es von einem Freund filmisch dokumentieren. Neunzig Jahre später beeindruckt die choreografische Miniatur als Metropolenmetapher, als Symbol für die Schattenseiten der Goldenen Zwanziger, die Trostlosigkeit der Elendsquartiere und Mietskasernenghettos. Selten hat der Tanz derart intim den Tod gestreift und in den Abgrund der Wirklichkeit geblickt. Die tanzende Mihaly hat das Milieu genauso schonungslos und ergreifend eingefangen, wie es einer Käthe Kollwitz auf dem Zeichenblock gelang.

Im Berliner Georg-Kolbe-Museum ist die 1902 als Elfriede Alice Kuhr geborene Jo Mihaly jetzt gemeinsam mit zehn weiteren Tänzerinnen zu entdecken. Unter dem Titel "Der absolute Tanz" versammeln die Kuratorinnen Julia Wallner und Brygida Ochaim zumeist vergessene Bühnen-, Revue- und Kabarettheldinnen, um deren Leben und Wirken anhand von Fotografien, Gemälden, Filmen und einer Handvoll Skulpturen aufzufächern. Die Karriere-Hochs lagen allesamt zwischen den Weltkriegen, in der turbulenten Kreativphase namens Weimarer Republik. Georg Kolbes ehemaliges Atelierhaus im Berliner Westend ist der passende Schauplatz des historischen Stelldicheins, weil Ballett- und Ausdruckstanzberühmtheiten hier jahrelang ein und aus gingen. Das belegt nicht zuletzt eine erstmals gezeigte Fotografie: Tamara Karsavina, die ungekrönte Königin der Ballets russes, als orientalische Diva im Spitzenschuh.

Diese Frauen waren Avantgarde, bedeutender für den Fortschritt des Fachs als viele Männer

Solche Werkzeuge des Klassischen haben die elf tanzenden Töchter der Republik resolut verabschiedet. Wer das Ausstellungs-Entree mit Ulla von Brandenburgs Assemblage kalkweißer Objekte gequert hat, schaut ihnen wandhoch in die jungen Gesichter - eins so eigenwillig und selbstbewusst wie das andere. Manche sind als Skandalkünstlerinnen in Erinnerung geblieben, allen voran die begnadete Mimodramin Valeska Gert, deren getanzte Porträts von Prostituierten und Todgeweihten mit antibourgeoiser Grandezza daherkamen. Oder Anita Berber, die privatim wie auf der Bühne Rauschmitteln von "Cocain" bis "Morphium" huldigte und im Evaskostüm Furore machte, eine Ikone der lasterhaften Lustbarkeit, die ihr Metier gleichwohl mit schlafwandlerischer Sicherheit beherrschte. So führte La Berber 1919 ihre Beine in Georg Oswalds Kintopp "Unheimliche Geschichten" derart raffiniert spazieren, dass einem noch heute der Atem stockt: Sirenenblick, Riesenkick, Spagat.

Was die Berliner Schau unterstreicht, ist die Pionierrolle der Tänzerinnen beim Aufbruch in die Moderne, und zwar bis hinein in deren sozialkritische und hochexpressive Verzweigungen. Ob sie wie Oda Schottmüller und Jo Mihaly das Politische tänzerisch einfärbten, wie die geschäftstüchtige Celly de Rheidt mit barbusigen "Schönheitsballerinen" Kasse machten oder Stilexzesse à la Charlotte Bara betrieben: Überall tobten sich Fantasie, Begabung und Innovationsdrang aus. Sie mündeten in berückende, bisweilen auch verstörende Bewegtbilder, die zwischen Lebensgier und Todesnähe schwankten. Kein Zweifel: Diese Frauen waren Avantgarde, bedeutender für den Fortschritt des Fachs als viele Männer. Aber wer weiß das schon, weiß das noch? Zumal die Dresdener Großmeisterin Mary Wigman inzwischen sämtliche Kolleginnen im kollektiven Gedächtnis überstrahlt - dank zahlreicher Schülerinnen, die ihr ein Nachleben sicherten.

Die Frage der Überlieferung ist problematisch. Denn das revolutionäre Potenzial versiegt, wenn Tänzerinnen selbst als Theatersujet auftauchen. Was freilich selten genug vorkommt, verglichen etwa mit Frida Kahlo oder Virginia Woolf, deren tragische Biografien inzwischen vielfach auf der Tanzbühne gespiegelt wurden. Innsbruck wartet im Oktober gar mit einem clever geschnittenen Ballett über die Schauspielerin Romy Schneider auf - Melodram und Metaerzählung in einem. Während also Schriftstellerinnen, Malerinnen und Modeschöpferinnen des 20. Jahrhunderts immer mal wieder (und aufgrund emotionaler Hyperventilation deutlich häufiger als männliche Kollegen) als Titelfigur eines Tanzabends in Erscheinung treten, ist die Beschäftigung mit ihren tanzenden Zeitgenossinnen - Ausnahme: Anita Berber - randständig geblieben. Die Berliner Schau lässt ahnen, woher dieser blinde Fleck rührt, ohne ihn direkt zu thematisieren. "Der totale Tanz" lässt sich im Medium des Tanzes selbst kaum fassen. Seine Phänomenologie ist reine Substanz, die sich in historische Zeugnisse einlagert. Als Fiktion und attraktiver Erzählstoff taugt sie nicht.

Dabei gibt es herrliche Anekdoten über Freundschaften, Feindschaften und künstlerische Allianzen. Davon zeugt in Berlin ein Brief, den Ernst Ludwig Kirchner 1929 an die "liebe Mad. Trümpy" adressierte: an die Tänzerin und Pädagogin Berthe Trümpy, die sich in der Wilmersdorfer Blüthgenstraße eine ultramoderne Villa samt Schule hatte bauen lassen. Nichts davon ist übriggeblieben, außer ein paar Schwarz-Weiß-Aufnahmen, Briefen, Programmzetteln. Umso aufschlussreicher ist die Würdigung im Georg-Kolbe-Museum: Der Besuch lohnt unbedingt, ebenso die Anschaffung des umfangreichen Begleitbuchs.

Der absolute Tanz. Tänzerinnen der Weimarer Republik, im Georg Kolbe Museum, Berlin. Bis 29. August 2021. Begleitbuch: 224 Seiten, 21 Euro, zu beziehen über www.georg-kolbe-museum.de

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