Filmfestival in Cannes 2021:Lächeln und lügen

Filmfestival in Cannes 2021: Tilda Swinton als Orchideenforscherin in "Memoria". Die Schauspielerin ist mit fünf Filmen in Cannes vertreten.

Tilda Swinton als Orchideenforscherin in "Memoria". Die Schauspielerin ist mit fünf Filmen in Cannes vertreten.

(Foto: Festival de Cannes)

Das Filmfestival in Cannes steuert aufs Finale zu: Von Pornodarstellern, Orchideenzüchterinnen und einem Treffen mit Tilda Swinton.

Von Tobias Kniebe

Wohin man auch schaut dieses Jahr in Cannes, überall ragt diese hohe, schlanke, respekteinflößende Gestalt heraus, deren weißblonder Haarschopf in der Sommersonne leuchtet. Sagenhafte fünf Filme hat Tilda Swinton dieses Jahr auf dem Festival. Die schottische Schauspielerin, vergangenes Jahr sechzig Jahre alt geworden, erscheint hier altersloser, produktiver, interessanter und bei den Regisseurinnen und Regisseuren begehrter denn je. In der Julihitze dieses Pandemie-Cannes ist die Präsenz ihrer Person, die dank ihrer patentierten Dauerbleichheit wie eine fleischgewordene Sonnenallergie umherwandelt, ein ganz besonders Erlebnis.

Ihren größten Auftritt hat Swinton in "Memoria", dem neuen Werk des thailändischen Kino-Zen-Träumers Apichatpong Weerasethakul, der hier vor elf Jahren die Goldene Palme gewann und seither zu den führenden Filmautoren der Gegenwart zählt. Diesmal hat er den Regenwald Südostasiens, in dem seine Filme häufig spielten, gegen den Dschungel Kolumbiens eingetauscht. In vielen sorgsam komponierten Bildtableaus hebt er die altmodische, manchmal leicht brutalistische Architektur der Stadt Medellín hervor. Tilda Swinton spielt eine Orchideenforscherin, die dort nicht allzu viel zu tun hat. Deshalb kann sie ihre Umgebung in langen, sehr ruhigen Einstellungen mit kontemplativem Staunen betrachten. In ihrer Neugier auf alles ist sie eine Art Alter Ego des Regisseurs - und auch Produzentin des Films.

Der Film klingt, als würde eine Abrissbirne gegen einen gigantischen Meditationsgong krachen

Eine Art Mission hat ihre Filmfigur auch, denn eines frühen Morgens schreckt sie von einem lauten Donnerschlag aus dem Schlaf, der in ihrem Kopf nachhallt. Es klingt in etwa so, als würde eine Abrissbirne gegen einen gigantischen Meditationsgong krachen. Scheinbar ist sie die Einzige, die das Geräusch hört, was sie beunruhigt und nicht nur zu einer Ärztin führt, sondern auch in ein hochmodernes Tonstudio. Dort versucht sie, mit einem hilfreichen jungen Sounddesigner aus einer Datenbank von Geräuschen den Sound in ihrem Kopf zu rekonstruieren. Allein, wie die beiden mit Sprache versuchen, Klang einzukreisen - etwas "runder" hier, etwas "erdiger" da -, führt zu einer unvergesslichen Szene über die Geheimnisse des Hörens und das Modellieren von Tönen.

Wie so oft bei Weerasethakul entzieht sich der Film immer mehr der wachen Tageslogik, wird eine Reise in den Dschungel und eine Art Tranceerlebnis, das faszinierend bleibt, auch wenn mal eine Weile praktisch nichts passiert. Die Herkunft des rätselhaften Donnerns jedenfalls löst sich am Ende tatsächlich auf - so spektakulär sogar, dass die Szene im eher stillen Gesamtwerk des Regisseurs eine ganz neue Note anschlägt. Auf jeden Fall ist Weerasethakul mit "Memoria" wieder ein Anwärter für eine Palme, wenn das Festival am Samstagabend endet und die Jury unter der Führung von Spike Lee die Preise vergibt.

Ob Sean Bakers Film "Red Rocket" aus den USA auch eine Chance hat, wäre eine spannende Frage. Der Film ist brillant gespielt und sehr packend, sein Hintergrundthema aber - die Pornoindustrie Amerikas und was sie mit den Menschen macht - vielleicht doch etwas zu anrüchig für internationale Preise. Baker hat sich mit Filmen wie "Tangerine L.A." und "The Florida Project" schon brillant in Menschen am Rand der amerikanischen Gesellschaft eingefühlt, die im Kampf ums Überleben immer wieder ins Hustler- und Strichermilieu abrutschen. Auch sein neuer Antiheld Mikey ist so eine Figur: Verletzt, ausgebrannt und ohne einen Cent in der Tasche kehrt er in seine alte Heimat, die Ölarbeiter-Vorstadt Texas City, zurück. In Los Angeles war er als Pornostar einmal eine größere Nummer, jetzt kriegt er dort keinen Fuß mehr in die Tür. Gespielt wird er von Simon Rex, der selbst einmal Pornostar war, bevor er eine normale Filmkarriere begann.

Ghareman

Sahar Goldust im Drama "Ghahreman/A Hero" von Asghar Farhadi im Wettbewerb von Cannes.

(Foto: Festival de Cannes)

Wie Mikey nun mit Lügen und Wahrheiten zugleich, mit schiefem Lächeln und genuinem Charme, sich wieder bei seiner alten Jugendliebe und späteren Porno-Partnerin einschleicht, die inzwischen selbst völlig abgebrannt bei ihrer Mutter lebt, wie nach endlosen Selbstzerstörungen und Verletzungen zwischen den beiden noch einmal Hoffnung aufkeimt, ist faszinierend zu beobachten. Selten hat das Kino die Verführungskraft eines Narzissten so überzeugend eingefangen. Als Mikey dann aber seinen fatalen Charme auf eine siebzehnjährige Donut-Verkäuferin namens Strawberry fixiert, die er nicht nur ins Bett kriegen, sondern auch in eine Pornodarstellerin verwandeln will, wird einem erst einmal angst und bange. Dann staunt man, wie genuin sexy Sean Baker dieses neue Paar inszeniert, ohne alle Entschuldigungen, und schließlich, wie plausibel die Entwicklungen bleiben. Auch die Vorstadt- und Jugendkultur der USA, heißt das, ist längst sehr viel näher an der Pornowelt als gedacht ...

Näher an Palmenchancen ist aber wieder einmal der Iraner Asghar Farhadi mit seinem Film "Ghahreman / A Hero", dessen tragisch-vertrackte Gesellschaftsstudien schon für zwei Oscars, Berlin-Bären und auch Cannes-Preise gut waren. Auch Farhadi zeigt einen Antihelden. Einen Mann namens Rahim (Amir Jadidi), der im Gefängnis sitzt und zum ersten Mal Freigang hat. So sanft und freundlich ist dieser Straftäter, dass man ihn gleich ins Herz schließt - und auch die Frau, die er in der Haft lieben lernte (Sahar Goldust), würde alles für ihn tun. Sie hat eine Tasche mit Goldmünzen an einer Bushaltestelle gefunden und könnte mit dem Geld die Hälfte der Schulden bezahlen, deretwegen er einsitzt. Dennoch entscheidet sich das Paar dagegen und hängt Handzettel mit dem Fund auf. Die Münzen gehen zurück an ihre Besitzerin, die sie wirklich dringend braucht ...

"Die wirklich spannenden Dinge verschwinden nie", prophezeit Tilda Swinton im Interview

Die noble Tat erregt das Interesse der Gefängnisleitung. Rahim wird als eine Art Modellgefangener vorgeführt, gibt Interviews im Fernsehen und gewinnt immer mehr Unterstützer, die seine Schuld begleichen wollen. Dumm nur, dass er seine Verlobte als Finderin der Münzen nicht nennen kann, ihre Verbindung ist nicht offiziell. Als kleine Notlüge gibt er sich selbst als Finder aus, aber wie immer bei Farhadi erwachsen aus scheinbar lässlichen kleinen Sünden später die größten Verwicklungen. Niemand ist wirklich böse in diesen Filmen, alle haben ihre Gründe und ihre Last zu tragen, aber Farhadis Meisterschaft führt die Figuren auf Wege, wo dann doch eine Ehre zerstört oder ein Leben ruiniert wird. Das Einzige, was in den Jurysitzungen um die Palme vielleicht gegen "Ghahreman" spricht: Farhadi hat eine sehr ähnliche Dynamik auch schon in Filmen wie "Nader & Simin" erprobt, und damals webte er sein Gespinst der Schicksalsfäden doch noch etwas unausweichlicher und plausibler als hier.

Endlich kommt der Tag, wo man Tilda Swinton nicht mehr immer nur von ferne auf dem Roten Teppich leuchten sieht, sondern ihr in einer Hotelsuite aus der Nähe ein paar Fragen stellen darf. Das Thema ist in diesem Fall ihr Film mit Wes Anderson, "The French Dispatch", wo sie eine Amerikanerin in Paris und sagenhafte Kunstkritikerin spielt. Auf Vorbilder für die Rolle angesprochen, gesteht sie, dass sie eigentlich keine konkrete Person imitieren wollte, dass sich ihr Studium von Rosamund Bernier aber leider als Schlüsselerlebnis erwies. Diese reale Amerikanerin in Paris, die 1955 das einflussreiche Kunstmagazin L'oeil geschaffen hat und mit Matisse, Picasso und Miró intim war, hat später im Leben Vorträge von großer theatralischer Verve gehalten: "Ich konnte nicht widerstehen, viele ihrer Gesten und Manierismen zu klauen", sagt Swinton.

Ob der Journalismus je wieder solche Figuren hervorbringen wird? Da schüttelt sie alle Nostalgie ab und lässt die unaufhaltsame Energie aufblitzen, die man wohl braucht, um fünf Filme gleichzeitig in Cannes zu platzieren: "Egal wie gern wir den Niedergang beklagen, in einem bin ich mir ganz sicher: Die wirklich spannenden Dinge verschwinden nie."

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