ARD-Doku über Querdenker:Crack für die Seele

Lesezeit: 2 min

Irgendwann völlig abgedriftet: Querdenker Leif H. demonstriert in Kiel gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung. (Foto: Henning Wirtz/NDR)

Eine Dokumentation beleuchtet, wie sich Menschen während der Corona-Pandemie verändert haben - ohne sie anzuklagen oder ihnen auf den Leim zu gehen.

Von Nils Minkmar

Man muss schon eine seltsame Gedankenwelt bewohnen, wenn man in der Bundesrepublik Deutschland den Wiedergänger von Nazi-Diktatur und SED-Regime erkennt und in Angela Merkel die Geistesgenossin Adolf Hitlers - leider gibt es ziemlich viele Menschen, die das so sehen und die auch sonst Überzeugungen hegen, die von der Empirie nicht gestützt werden. Wie kommen sie dazu? Welcher Weg führt in den Kaninchenbau der verschwörungstheoretischen Unterwelt? Und warum finden die Besucher so schwer wieder hinaus, vergraben sich vielmehr immer tiefer?

In ihrem Film Querdenker- wie sich Menschen aus der Mitte radikalisieren interessieren sich Caroline Schmidt und Svea Eckert für Personen, die sich in der Zeit der Corona-Pandemie verändert haben: Diese freundlichen Menschen wurden erst skeptisch, gingen dann auf Demonstrationen, verbrachten viele Stunden täglich bei Telegram, Youtube und Co. und sahen sich schließlich als Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer gegen das System. Der Film nimmt sich die Zeit, die einzelnen Stufen der Radikalisierung nachzuzeichnen, ohne diesen Leuten auf den Leim zu gehen, ohne sie andererseits anzuklagen.

Leif und Jana sammeln Erfahrungen wie andere Muscheln

Wir lernen den Segellehrer Leif H. und seine Freundin kennen. Sie haben vier Kinder und wirken sympathisch. Zu Beginn des Films sehen wir, wie Leif eine Sitzung des Landtages in Kiel besuchen möchte. Aber er weigert sich, eine Maske zu tragen, also wird nichts daraus, man führt ihn von der Besuchertribüne ab. Einerseits ist Leif darum bemüht, Einfluss zu nehmen und sich basisdemokratisch zu engagieren, bemüht sich um ein kritisches Urteil und legt damit Qualitäten an den Tag, die in einer lebendigen Demokratie zu begrüßen sind - aber man sieht auch einen anderen Zug, eine Ungeduld und leise Aggressivität. Er hat schon diverse Parteien ausprobiert, fand nie eine politische Heimat. Leif und Jana sammeln Erfahrungen wie andere Muscheln: Einmal, im Lockdown, ist die Polizei am Strand und bittet die Windsurfer, ihren Sport sein zu lassen. Das empört die beiden nachhaltig. Sie deuten es als Symbol für einen drohenden Überwachungsstaat. In diesem alarmierten Zustand schauen sie sich Clips und Videos an, auf der Suche nach einer Gemeinschaft, nach Belegen und Spuren. Sie schauen Ken Jebsen und produzieren auch selbst Videos. Später demonstrieren sie in Berlin und sind irgendwann völlig abgedriftet.

Marcel H. glaubte an Verschwörungstheorien. Inzwischen hat er den Ausstieg aus den Netzblasen geschafft. (Foto: Alexander Rott/NDR)

Der Film bleibt nicht bei einzelnen Geschichten, sondern öffnet den Fokus. Wir lernen Marcel H. kennen, einen Studenten, der zur Zeit der Ukraine-Krise eine ähnliche Entwicklung durchmachte. Er stellt den Filmemacherinnen sein Profil auf Facebook zur Verfügung. Durch eine Auswertung seines Nutzerverhaltens können sie genau nachvollziehen, wie sich seine politische Radikalisierung vollzog: viele Stunden im Netz, ein Beitrag aufwühlender als der nächste. Irgendwann vergleicht er dann Merkel mit Hitler, so überzeugt ist er, dass sie hinter einem finsteren Plan zur reaktionären Machtergreifung in Kiew steht. Aber er fand auch den Weg wieder hinaus und schaut heute verwundert auf seine Karriere als Netzradikaler auf russischer Seite. Seine Freundin half ihm da raus, heute engagiert er sich bei der SPD.

SZ PlusDoku "Schockwellen" zur Pandemie
:Wenn alles anders kommt

Die Dokumentation "Schockwellen" wagt einen umfassenden Rückblick auf das vergangene Pandemie-Jahr. Volker Heise gelingt ein überragendes Mosaik der Irrtümer, Lösungsversuche und Panikzustände.

Von Nils Minkmar

In der Analyse der Mechanismen der Radikalisierung und der Dynamik sozialer Konflikte fügt der Film den Beschreibungen der Protagonistinnen und Protagonisten eine wichtige Ebene hinzu. Auf der Suche nach Bestätigung begegnen die Skeptiker im Netz, schließlich in den Kanälen von Telegram, immer härterem Stoff. Der Film schafft es, das Querdenkerphänomen in einen größeren kulturellen und technologischen Kontext zu stellen und nach den digitalen Radikalisierungswegen zu fragen. Denn eines ist allen Fällen gemeinsam: die vielen Stunden täglich, die sie vor ungeprüften Angeboten verbringen, deren kritische Nutzung sie nie gelernt haben. Solcher Content ist Crack für die Seele, die Querdenker nur eine von vielen Bewegungen, die auf diese Weise entstanden sind.

Die Story im Ersten: Querdenker, ARD, 22.50 Uhr

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Protestbewegung
:Wie die "Querdenker" nach der Pandemie weitermachen wollen

Wird sich die Protestbewegung auflösen? Nicht, wenn es nach dem "Querdenken"-Gründer Michael Ballweg geht. Auch Verfassungsschützer sehen noch keinen Grund zur Entwarnung.

Von Claudia Henzler

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: