Sachbuch "Move - Das Zeitalter der Migration":Die neue Völkerwanderung

Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze

Auch ein Generationenkonflikt: Kinder auf der Flucht im Oktober 2015 auf einer Wiese an der deutsch-österreichischen Grenze bei Wegscheid.

(Foto: Armin Weigel/dpa)

Wegen Hitze und Überflutungen könnte sich in den kommenden Jahrzehnten rund die Hälfte der Menschheit in Bewegung setzen. Nur wohin? Der Politologe Parag Khanna wagt Prognosen.

Von Moritz Baumstieger

Vielleicht muss man sich Parag Khanna als eine Art modernen Mose vorstellen: Er hat die richtige Vision - sich rapide verschlechternde Verhältnisse machen eine große Wanderung unabdingbar -, und er weiß, wo diese hingehen soll. Nur eines scheint er, wie Mose, nicht so ganz genau zu wissen: Welcher Weg eigentlich in dieses gelobte Land führt.

Während der biblische Prophet ein einzelnes Volk aus der Versklavung leiten wollte, sieht der 1977 geborene, indisch-amerikanische Politikwissenschaftler und Strategieberater weit breitere Wanderungsbewegungen voraus: Etwa die Hälfte der Erdbevölkerung, schätzt er, könnte sich in den kommenden Jahrzehnten auf den Weg machen - um sich in ihrem eigenen Land an günstigerer Stelle wieder niederzulassen, um in ein Nachbarland zu ziehen oder um ganze Kontinente durch- und Ozeane zu überqueren. Oder um stets mobil zu bleiben und stetig weiterzuziehen, ähnlich dem alten Volk Israel, das 40 Jahre über den Sinai irrte - "Quantenmenschen" nennt Khanna die neuen Nomaden von heute.

Das von Moses Anhängern dann doch noch irgendwann erreichte Gebiet um den Jordan wird jedoch keinesfalls das Ziel der Wanderungsbewegungen der Gegenwart sein. Wenn der Klimawandel weiter so fortschreitet, wird der biblische Fluss bald kein Wasser mehr führen, die Region weiter austrocknen und verwüsten.

"Für Milliarden Menschen käme es dem Selbstmord gleich, würden sie am angestammten Ort bleiben."

"Gegenwärtig schlägt die Natur zurück und zwingt uns, vom sesshaften Leben zu einer nomadischen Lebensweise zurückzukehren", schreibt Khanna in "Move: Das Zeitalter der Migration". Seine Fans, zu denen etwa auch der ehemalige amerikanische Präsident Barack Obama gehört, der Khanna zum außenpolitischen Berater seiner ersten, vom Ruf nach "Change" durchtränkten Wahlkampagne machte - schätzen Khanna als einen, der die Zukunft voraussagen kann. Weniger weil er einen verlässlich brennenden Dornbusch im Vorgarten hat, sondern weil er Karten und Daten richtig lesen und miteinander in Beziehung setzen kann. Jene, die er in den vergangenen Jahren in Bezug auf Klimawandel, Demografie und Ökonomie gelesen hat, scheinen nur einen Schluss zuzulassen: Wenn wegen steigender Temperaturen und Meeresspiegeln weite Teile der Erde kaum mehr zu bewohnen seien werden, werden sich weite Teile der Erdbevölkerung in Bewegung setzen. "Für Milliarden Menschen käme es dem Selbstmord gleich, würden sie am angestammten Ort bleiben."

Natürlich werden in Khannas Vision auch Europa und Nordamerika weiter Ziel von Migration sein. Und sowohl der Staatenbund als auch der Bundesstaat werden sich öffnen müssen, wenn ihre derzeitigen Gesellschaften nicht irgendwann vollkommen vergreist dahinsiechen wollen - zwar umgeben von vielleicht immer noch sichereren Grenzen, aber eben auch von vollkommen überalterter Infrastruktur. "Europa steht vor der Wahl, Migranten aufzunehmen und zu integrieren oder von einer demographischen Klippe zu stürzen", formuliert es Khanna. Und er ist zuversichtlich, dass der sich derzeit noch hinter rasiermesserscharfen Zäunen abschottende Kontinent die richtige Wahl treffen wird.

Die entscheidende Mentalitätsgrenze, so weiß es Khanna oder so hofft er es vielleicht auch nur, verlaufe heute nicht zwischen Nord und Süd, sondern zwischen Jung und Alt. Im Zweifel hätten zwei im Whatsapp-Zeitalter aufgewachsene Menschen aus verschiedenen Erdregionen mehr miteinander gemein als die Mitglieder zweier Generation aus demselben Land, schreibt er - und leitet daraus ab, dass die jungen, in Zeiten von Erasmusprogrammen und Globalisierung aufgewachsenen Europäer sich ganz rational für eine aufgeklärtere Migrationspolitik entscheiden werden.

Angesichts der Erfolge der PiS-Partei in Polen, der Fidesz in Ungarn, der Migrationsfeinde von AfD, Lega und Rassemblement National, dem Irrsinn eines Donald Trump und des Brexits mag das wie der fromme Optimismus eines Kosmopoliten klingen. Khanna wurde in Indien geboren, ist in den Emiraten, den USA und Deutschland aufgewachsen, ging wieder in die Vereinigten Staaten und nach Großbritannien, um zu lernen und zu lehren, heute hat er sich in Singapur niedergelassen.

Sachbuch "Move - Das Zeitalter der Migration": Parag Khanna: Move - Das Zeitalter der Migration. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Karsten Petersen. Rowohlt Berlin, Berlin 2021. 448 Seiten, 24 Euro.

Parag Khanna: Move - Das Zeitalter der Migration. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Karsten Petersen. Rowohlt Berlin, Berlin 2021. 448 Seiten, 24 Euro.

Dass er als Weltbürger eher Chancen sieht, wenn es um Migration geht, ist verständlich - was jedoch die vielen Menschen, die in Zuzug eher eine Bedrohung sehen, vielleicht nicht unbedingt interessieren wird. Doch Khanna ist sich sicher, dass die Welle der populistisch-nationalistischen Migrationsfeinde bald ausläuft. Sie erreichten "weitgehend eine ältere Generation, die bereits mit einem Fuß im Grab steht - und werden ihr auch dorthin folgen."

Migrationsbewegungen eines bislang ungekannten Ausmaßes ausschließlich in Richtung der gegenwärtigen Wohlstandsinseln USA und Europa hin zu denken, würde in gewisser Weise ja auch nur den Narrativen jener folgen, die den christlich geprägten Westen gegen Menschen mit dunklerer Haut zu verteidigen glauben müssen. Khanna denkt hier aber viel weiter, die künftigen gelobten Länder sieht er eher dort, wo Permafrost milden Temperaturen weichen wird, wo heute höchstens Gräser und Birken, morgen aber schon erlesene Weine wachsen könnten.

Sibirien könnte zu einer Art Obst- und Gemüsegarten Eurasiens werden

So wie die Planwagen in den USA einst nach Westen rollten, hält er bald Siedlertrecks für möglich, die in Richtung Pol ziehen. Um in Kanada und den skandinavischen Staaten Land urbar zu machen, und nicht nur dort: Kasachstan, das heute rund 20 Millionen Einwohner hat, könnte sich klimatisch günstig verändern - ist es bereit für 200 Millionen weitere Einwohner? Und Russland! Sibirien, bislang klischeemäßig mit Straflagern und Erfrierungstod assoziiert und somit Inbegriff der Lebensfeindlichkeit, könnte bei steigenden Temperaturen zu einer Art Obst- und Gemüsegarten Eurasiens werden, der von Millionen migrierten Asiaten, Indern und auch Südeuropäern bestellt wird. Khanna fordert sogar: "Russland muss zu einem eurasischen Kanada werden."

Das autoritäre Russland Wladimir Putins - ein eurasischer Hort von Liberalität und Multikulturalismus? Dass er hier eben mal eine vollkommene Umkehrung der bestehenden politischen Verhältnisse hinpinselt, weiß Khanna, er betitelt das entsprechende Kapitel ja sogar vielsagend mit: "Die nächste russische Revolution". Der Klimawandel wird Disruptionen ungeahnten Ausmaßes hervorbringen, keine Frage - und die meisten Menschen gehen wohl eher davon aus, dass diese Veränderungen schmerzhaft bis grausam sein dürften.

Khanna scheint jedoch an die Fähigkeit der Menschheit zu glauben, zu Entscheidungen zu kommen, von denen letztlich alle profitieren - und so wünschenswert seine Vision von einem Konsens der Aufgeklärten zu so gigantischen wie gerechten Umsiedlungsplänen auch wäre, klingt sie etwas sehr nach Science-Fiction. Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit. Gleichzeitig, und da ist Khanna wieder der Mose ohne Plan, beschreibt er in keinem Fall näher, wie die gewaltigen, von ihm prognostizierten Veränderungen ablaufen könnten, die notwendig sind, um seine Visionen nicht nur technologisch, sondern auch politisch möglich zu machen. Dass er, wenn es um Technik intelligent nutzende postnationale Gesellschaften geht, meist auf autoritär geführte Stadtstaaten wie Singapur oder die Vereinigten Arabischen Emirate verweist, müsste Khanna selbst am meisten zu denken geben.

Und so bedenkenswert viele seiner Gedanken auch sind, scheint ihn manchmal auch einfach die Lust an der sehr steilen These zu packen. Vor lauter Zukunftsbegeisterung vergisst er dann den Faktor Mensch, der schon viele Visionen und Innovationen ausgebremst hat. Soziale und familiäre Bindungen kommen in den knapp 420 Seiten nur am Rande vor, Technik dafür umso öfter. "In Frankreich", schreibt Khanna etwa, würden kleine Dorfbäckereien bald durch halbautomatisierte Lebensmittelläden "und sogar Baguette-Automaten ersetzt" werden. Baguette aus der Maschine? Mais non, jamais.

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