Interview:"Wir sind keine Fehlergucker"

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"Das Wichtigste ist aus meiner Sicht die Harmonie zwischen Reiter und Pferd", sagt Dressurrichterin Katrina Wüst - hier vorgeführt von den bayerischen Olympia-Teilnehmern Jessica von Bredow-Werndl und Dalera. (Foto: Frank Heinen/Rene Schulz/imago)

Katrina Wüst aus Ismaning ist Chefrichterin der olympischen Dressur in Tokio. Ihr ist wichtig, einfühlsames, gutes Reiten zu belohnen. Ein Gespräch über Tierschutz, Objektivität und die Gründe, wieso ihre Vorfreude auf die Spiele getrübt ist.

Von Sabine Neumann

Die Hektik des nahenden Abenteuers ist zu hören. Am Dienstag ist Katrina Wüst nach Tokio aufgebrochen, während der letzten Vorbereitungen für den Flug gibt sie am Telefon noch dieses Interview. Immer wieder klingelt und piepst es im Hintergrund, Anrufe und Whatsapp-Nachrichten trudeln ein. Alles sei kompliziert mit diesen Olympischen Spielen, der Anreise und den Formalitäten, erzählt sie. Von einigen Reitern, die bereits in Japan sind, hat sie noch Tipps bekommen. Katrina Wüst klingt trotzdem gelassen. Als Dressurrichterin hat sie über viele Jahre internationale Erfahrung gesammelt. In Tokio wird sie die Chefrichterin sein, und mit 70 vielleicht sogar die älteste Debütantin: Es sind ihre ersten Olympischen Spiele.

SZ: Die Austragung der Spiele ist wegen der Corona-Krise umstritten. Die Mehrheit der Japaner hätte lieber darauf verzichtet. Mit welchen Gefühlen fliegen Sie nach Tokio?

Katrina Wüst: Auch wenn diese Spiele unter sehr besonderen Umständen stattfinden und ich die Sorgen der japanischen Bevölkerung verstehe, freue ich mich für die Sportler, die endlich ihre sportlichen Ziele verfolgen können. Die Olympischen Spiele sind auch der Traum eines jeden Richters. Dennoch reise ich mit gemischten Gefühlen. Die Bestimmungen sind kompliziert und ändern sich dauernd. Man hat das Gefühl, man ist nicht so gerne gesehen. Dadurch ist die Vorfreude etwas getrübt.

Viele Aktive sind vor Olympischen Spielen nervöser als sonst. Wie geht es Ihnen vor Ihren ersten Olympischen Spielen?

Ich bin ganz entspannt. Ich hatte drei Kinder zu Hause. Da lernt man, mit Trubel und Stress umzugehen und ständig gefordert zu sein. Ich habe schon Weltmeisterschaften der Jungen Dressurpferde, Europameisterschaften, Weltreiterspiele und Weltcup-Finales gerichtet. Auch für London 2012 und Rio de Janeiro 2016 stand ich auf der Longlist. Ich hatte eine 50-prozentige Chance, aber das Los hat mir zweimal kein Glück gebracht. Jetzt hat mich die Internationale Reiterliche Vereinigung berufen. Das Losverfahren wurde abgeschafft.

Welche Aufgabe haben Sie als Dressurrichterin?

Richten bedeutet, dem jeweiligen Reiter gerecht zu werden und die richtige Rangierung zu finden, egal auf welchem Level. Im Grand Prix gibt es 40 Einzellektionen, da kann man jede Lektion für sich detailgenau bewerten sowie das Gesamtbild. Die einzelnen Noten können wir kommentieren, damit die Reiter wissen, was wir positiv sehen beziehungsweise kritisieren.

Wie gehen Sie mit Kritik von Reitern oder Trainern um?

Ich bin immer offen für sachliche Kritik und erkläre meine Noten dem Reiter und Trainer gerne.

Was ist das wichtigste Kriterium in der Dressur?

Das wichtigste Kriterium ist aus meiner Sicht die Harmonie zwischen Reiter und Pferd. Wir sind keine Fehlergucker, sondern schauen auf das Gesamtbild, ob das Pferd locker und die Hinterhand aktiv ist, sehen aber auch dem Pferd ins Gesicht, ob es sich engagiert und aufmerksam präsentiert. Ein korrekt ausgebildetes, zufrieden gehendes Pferd bekommt höhere Noten als ein Pferd, das angespannt wirkt. Natürlich sollte eine Dressurprüfung zudem auch möglichst fehlerfrei und mit Höhepunkten gezeigt werden. Ich bin Richterin geworden, weil der Dressursport uns Richtern die Möglichkeit gibt, einfühlsames, gutes Reiten zu belohnen.

Sie weiß, wo's lang geht: Katrina Wüst (Mitte) hat schon bei Welt- und Europameisterschaften gerichtet. Nur bei Olympia ist sie neu. (Foto: Markus Fischer/Passion2Press/imago)

Dennoch ist die Dressur wegen fragwürdiger Trainingsmethoden und schlechter Bilder in die Kritik geraten.

Das ist schon länger her, der Tierschutzgedanke ist seitdem und nicht zuletzt auch dadurch viel präsenter geworden und hat sehr positiven Einfluss auf das gesamte Training. Man sieht im Spitzensport nur noch selten Paare, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind. Da passen die Stewards auf den Vorbereitungsplätzen und die Richter in der Prüfung genau auf. Daniel Göhlen, ein Münchner Informatiker, hat ein elektronisches System entwickelt, das Noten und Kommentare der Richter erfasst und dabei auch eine Signalfunktion zum Schutz des Pferdes enthält. Wenn ein Pferd deutlich außer Takt geht oder sich gar auf die Zunge gebissen hat, wird ein Alarmknopf gedrückt und der Chefrichter muss das Pferd aus der Prüfung nehmen. International sind wir da schon sehr weit.

Richter sollen das richten, was sie sehen. Manchmal hat man als Zuschauerin aber den Eindruck, die Note bzw. die Rangierung stünde schon vor der Prüfung fest. Wie sehr beeinflussen frühere Prüfungsergebnisse, der Name eines Reiters oder andere Faktoren das Richten?

Ich glaube nicht, dass es im Leben eine 100-prozentige Objektivität gibt. Wichtig ist aber, dass man sich von etwaigem Vorwissen frei macht und jede Prüfung mit frischem Blick richtet. Mir hilft dabei mein eigenes langjähriges Reiten sehr, für eine Lektion die richtige Note auf der Skala von 1 bis 10 zu finden. Im Übrigen werden wir auf Championaten von Supervisoren beobachtet, die unsere Noten ändern können. Anders als in anderen Sportarten sitzen wir um das Dressurviereck herum, da gibt es unterschiedliche tote Winkel und schnell bleibt ein Fehler einmal unbemerkt. Dressurrichten ist völlig transparent, unsere Noten sind nach der Prüfung für jeden ersichtlich und wir haben nur einen schmalen Notenkorridor von ca. fünf Prozent, in dem wir uns bewegen sollten. Wer öfters danebenliegt oder gar nationalistisch richtet, ist schnell draußen aus dem Kreis der Top-Richter.

Wie steht es um die Unabhängigkeit der Richter? Es gibt Richter, die als Trainer tätig sind. Richter vermitteln Pferde.

Generell wird sehr auf die Unabhängigkeit von Richtern geachtet, auch finanziell. Die meisten Richter haben Berufe, die nichts mit Pferden zu tun haben. Pferdeverkäufe oder Vermittlungen finden statt, der Richter darf das Pferd dann aber mindestens ein Jahr lang nicht richten. Hier gibt es leider eine Grauzone, gerade im unteren Bereich.

Für die Olympischen Spiele in Tokio wurden Regeln geändert. Welche Vor- und Nachteile hat es, dass die Zahl der Mannschaftsreiter von vier auf drei reduziert wurde?

Es hat den Vorteil, dass mehr Nationen teilnehmen können. Wir sagen, es bringt mehr Fahnen an den Mast. Der Nachteil ist, dass die sportliche Qualität etwas gemindert wird.

Mehr Nationen bringen mehr Geld. Hat sich die Globalisierung auch auf die Besetzung der Jury ausgewirkt?

Eine Jury bei Olympischen Spielen ist seit jeher global. Für Tokio wurden wir sozusagen handverlesen nach Erfahrung und Unabhängigkeit. Eine Richterin kommt aus den USA, eine Kollegin aus Australien, fünf aus Europa, aus den Niederlanden, England, Schweden, Dänemark und Deutschland. Man nimmt bewusst Richter aus großen Dressurnationen mit Expertise und vertraut darauf, dass sie nicht durch die nationale Brille richten.

Wie sieht der Ablauf der Dressurwettbewerbe in Tokio aus?

Die Startreihenfolge der 60 Paare wird nicht mehr ausgelost, sondern richtet sich wie in anderen Sportarten auch nach der Weltrangliste. Das heißt, die Ranglistenerste Isabell Werth mit Bella Rose startet am zweiten Tag des Grand Prix als Letzte, die zweite der Weltrangliste, Jessica von Bredow-Werndl mit TSF Dalera BB als Letzte am ersten Tag. Die Idee ist, dass die guten Reiter gleichmäßig über beide Grand Prix-Tage verteilt sind und es dadurch für die Zuschauer spannender wird. Die acht besten Teams, also 24 Reiter, gehen in den Grand Prix Spezial für die Mannschaftswertung. Am Schluss reiten 18 Paare in der Kür um die Einzelmedaillen. Für ihre Qualifikation ist der Grand Prix entscheidend.

Die Dressur stand als olympische Disziplin immer wieder auf dem Prüfstand. Wie sieht es aktuell aus?

Der Reitsport ist olympisch auf dem Prüfstand, weil die Unterbringung der Pferde teuer ist. Allerdings treten in allen Disziplinen Frauen ohne Einschränkung gegen Männer an. Diese Gendergerechtigkeit ist ein Riesenpluspunkt für den Verbleib im olympischen Programm. Frankreich als Austragungsort der nächsten Spiele ist ein Pferdeland, deshalb hoffen wir, dass die Dressur 2024 im Programm bleibt.

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