Mark Gevissers Buch "Die pinke Linie":Als George Clooney das Sultanat Brunei modernisierte

Mark Gevissers Buch "Die pinke Linie": Weltweiter Kampf um Anerkennung: LGBTQI+ Pride Parade im mexikanischen Tijuana am 19. Juli.

Weltweiter Kampf um Anerkennung: LGBTQI+ Pride Parade im mexikanischen Tijuana am 19. Juli.

(Foto: Guillermo Arias/AFP)

Zentrale Konflikte unserer Zeit spielen sich an der "pinken Linie" ab. Mark Gevissers globale Geschichte der sexuellen Selbstbestimmung.

Von Aurelie von Blazekovic

Er gehöre nicht zu denen, die es für nötig halten, so etwas vor jeden Satz zu schreiben, aber im Vorwort seiner 600 Seiten schweren Erkundung gegenwärtiger Kämpfe um Sexualität und Geschlecht tut es der südafrikanische Journalist und Autor Mark Gevisser dann doch einmal: Er selbst sei ein "weißer, schwuler, südafrikanischer Cisgender-Mann mittleren Alters aus der Mittelschicht".

Wer an diesem Punkt schon abgeschreckt ist, also dröge Identitätspolitik wittert, der sollte trotzdem oder natürlich gerade deshalb weiterlesen. Sie oder er wird - versprochen - viel lernen und dabei sogar unterhalten werden. In "Die pinke Linie" sind beinahe zehn Jahre Recherche geflossen. Gevisser führt nicht nur durch alle gegenwärtigen Debatten, die sexuelle und Geschlechtsidentität betreffen, sondern auch um die ganze Welt. Er reist nach Malawi, nach Uganda und Nigeria, in die USA, nach Russland und Großbritannien, nach Mexiko, Israel und in das Westjordanland, nach Indien und Ägypten und an unzählige andere Orte. Überall sucht er die "pinken Linien" unserer Zeit. Und schreibt dabei eine Geschichte der globalen Queerness.

Schon das Wort "Cisgender" wäre ein Beispiel für die von ihm beschriebene pinke Linie. Wer den Begriff kennt und verwendet, positioniert sich auf einer Seite eines Grabens, sagt, worum gerungen wird: Dass es neben dem biologischen Geschlecht ein soziales gibt und dass diese beiden Geschlechtsdimensionen bei manchen Menschen übereinstimmen und bei anderen nicht. Die einen "cis", die anderen "trans". Auf der anderen Seite der pinken Linie stehen jene, für die das Quatsch ist oder sogar gefährlich. Mit den auch in der deutschen Debatte omnipräsenten Sprachkriegen beschäftigt sich Gevisser aber nur am Rande.

Die schwule Dating-App mit den weltweit meisten Nutzern ist Blued aus China mit 40 Millionen Nutzern

Die pinke Linie verläuft für ihn vielmehr um Mexiko City, einer liberalen Insel in einem katholischen Land, wo es seit 1979 die älteste Gay-Pride Lateinamerikas gibt. Oder durch Schultoiletten in den USA, wo sich Politik und Justiz eine Schlacht darüber liefern, welche Toiletten Trans-Schülerinnern und -Schüler nutzen dürfen. In Osteuropa werde eine pinke Linie gegen den dekadenten westlichen Liberalismus und seine LGBT-Rechte gezogen. Die pinke Linie, das ist also eine Konfliktline, eine der wichtigsten unserer Zeit. Sie trennt Menschen, Familien, Staaten, so wie das auch andere weltanschauliche Fragen tun.

Gevisser beschreibt die pinke Linie als ein Gebiet, "in dem queere Menschen jedes Mal die Zeitzone wechseln, wenn sie von ihrem Smartphone aufschauen und die um den Familientisch versammelten Menschen sehen". Die schwule Dating-App mit den weltweit meisten Nutzern ist übrigens nicht Grindr (27 Millionen Nutzer), sondern die chinesische Variante Blued mit 40 Millionen Nutzern.

Gevisser findet weltweit Menschen, die an der pinken Linie leben. Der Teenager Michael aus Uganda hat sie überschritten, als er sich mit einem anderen Jungen erwischen ließ, und wieder, als er verstoßen und verfolgt das Land verlassen musste. "Aunty", eine Trans-Frau aus Malawi, tut es, als sie in ihrem Dorf eine traditionelle Verlobungsfeier mit einem Mann abhält. Sie wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt und kam erst durch die Intervention von Madonna und Ban Ki-moon frei. Das Paar Zaira und Martha feierte in seiner mexikanischen Heimatstadt die erste lesbische Hochzeit - unter Polizeischutz.

Mark Gevissers Buch "Die pinke Linie": Mark Gevisser: Die pinke Linie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 655 Seiten, 28 Euro.

Mark Gevisser: Die pinke Linie. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 655 Seiten, 28 Euro.

Im globalen Kampf um sexuelle Selbstbestimmung geht es mal um die Homoehe, mal darum, Kinder zeugen zu dürfen, oft aber vor allem ums schiere Überleben. In 69 Ländern ist Homosexualität verboten, in neun kann sie mit dem Tod bestraft werden. Gleichzeitig können LGBT-Bewegungen weltweit Erfolge feiern. Mittlerweile erlauben 29 Länder die gleichgeschlechtliche Ehe. Offen Homosexuelle regieren heute Staaten (Irland, Island, Belgien, Luxemburg, Serbien). Vor allem in den vergangenen zwanzig Jahren hat sich so viel getan, dass die Gegenbewegungen teilweise umso heftiger sind.

Afrikanische Länder, aber auch Russland, wehren sich massiv gegen westlichen Druck, liberaler zu werden. "Die pinke Linie" beleuchtet diese andere Seite ausführlich. "Es wäre zu einfach", schreibt Gevisser, "diese Reaktion als Homophobie oder Transphobie zu bezeichnen", auch wenn weltweit verbreitete Schauermärchen von der "Rekrutierung" Homosexueller natürlich mit Angst und Hass zu tun hätten, genauso wie Warnungen vor der vermeintlichen Gefährdung von Jugend und Familien durch LGBTQ-Rechte. Und während sich einige Staaten möglicherweise zu Recht darüber ärgern, dass der Westen sie mit Fördermitteln und Sanktionen zum Wandel zu zwingen versucht, so ist die Hysterie an der pinken Linie oft grenzenlos.

Nirgendwo wurden zuletzt mehr Menschen wegen Homosexualität inhaftiert als in Ägypten

Von der "Regenbogenpest" sprach der Bischof von Krakau etwa und malte eine Ideologie an die Wand, die "unsere Herzen, Seelen und unseren Verstand kontrollieren will", so, wie das einst die "rote Pest" tat, der Kommunismus. Als Schreckgespenst der heutigen Zeit gilt vielen die Gendertheorie, stellvertretend für alles Schlechte der Gesellschaft. Vor "ideologischer Kolonialisierung" aus dem Westen mit Gendertheorie und LGBTQ-Rechten warnte nicht nur Viktor Orbán, sondern auch Papst Franziskus.

"Die pinke Linie" enthält einen wichtigen Perspektivwechsel für alle, die meinen, es gehe bloß um Befindlichkeiten privilegierter Minimalgruppen. Denn während mancherorts die Liberalisierung als selbstverständlich gelten mag, wird besonders in islamisch geprägten Ländern das Leben für Queere immer unmöglicher. Im vergangenen Jahrzehnt wurde etwa Kairos Szene massiv zurückgedrängt, in Ägypten wurden zuletzt mehr Menschen wegen Homosexualität inhaftiert als sonst irgendwo auf der Welt.

Es wird besser, lautet ein Mantra der Bewegung, und so gelang es George Clooney kürzlich, Brunei zu ändern. Das Sultanat hatte 2019 ein neues Strafgesetzbuch angekündigt, das die Todesstrafe für homosexuellen Sex ermöglicht hätte. Boykottaufrufen Clooneys folgten so schnell so viele Unternehmen und Organisationen, dass der Sultan von Brunei nach nur einem Monat ein Moratorium verhängte.

Gegen die These der "Indoktrinierung" mit "Genderideologie" spricht übrigens vor allem eines: Nicht nur ist Homosexualität selbstverständlich so global wie alles Menschliche. Es gibt auch zahlreiche Kulturen, in denen es schon immer eine dritte Geschlechtskategorie gab. Bakla auf den Philippinen, kothi in Südindien, waria in Indonesien, 'yan daudu in Nordnigeria, two spirits in indigenen Kulturen Nordamerikas. Sie passen nicht immer gut in heutige Kategorien der Transsexualität oder Non-Binärität.

Bei den bakla sei es so, lässt sich Gevisser von einer philippinischen Trans-Politikerin erklären: Der Sitz ihrer Identität sei nicht der Verstand, so wie man das im Westen sehen würde, "sondern das Herz, der Geist, das innere Ich". Auch in der Frage zwischen Verstand und Herz verläuft eine pinke Linie. Wer Identität im Verstand verhafte, neige dazu, Trans-Menschen zu pathologisieren, so die Politikerin. Auf der anderen Seite der Linie ginge es "einfach darum, wer man ist".

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