Streaming und Gaming:Fantasy-Fesseln

Netflix-Verfilmung von "The Witcher"

Netflix setzt schon länger auf die Verfilmung von Videospielen wie "The Witcher".

(Foto: Netflix)

Netflix bringt Spiele heraus, bei Spotify kann man jetzt gemeinsam Musik hören. Wie Tech-Firmen Nutzerinnen und Nutzer auf ihren Plattformen halten wollen.

Von Nicolas Freund und Cornelius Pollmer

Lange war Virtual Reality ein weitgehend uneingelöstes Versprechen, inzwischen aber lässt sich mehr als nur erahnen, welche Welten einmal für Fluchten zur Verfügung stehen werden, wenn die erste und echte sich draußen vor der Tür weiter verfinstert. Ein kleiner Probeflug im Wohnzimmer mit der VR-Brille Quest 2 von Oculus, auf der diese Ersatzwelten zur großen Erheiterung der um einen herumsitzenden Freunde nur ein paar ungelenke Armbewegungen voneinander entfernt liegen.

Mit einem im Wohnzimmer stehen bald hünenhaft und schwer atmend Darth Vader aus "Star Wars" und eine Entourage von Stormtroopern, alles virtuelle Lizenzware. Das wirkt echt genug, um einem zumindest einen kleinen Schrecken einzujagen. Vader kommt ja nicht zum Kaffeetrinken. Wisch und weiter: Ein schlecht rasierter Preisboxer steht einem gegenüber, drei Runden und einige Kinnhaken später steht man immer noch im Wohnzimmer, jedoch schwitzend wie nach einem engagierten Mittelstreckenlauf.

Wisch und weiter: Netflix, Entspannung. Aber selbst hier hat VR Potenzial. Man schaut ja nicht mehr auf den first screen in der zu engen, zu dunklen, von Spekulation und Marktjagd bedrohten Stadtwohnung. Nein, über die VR-Brille lässt sich ein Alpen-Chalet beziehen, großzügig geschnitten. Draußen ruhen die Berge in der Nacht, drinnen schwere Lampen, schwere Steine, dazwischen eingepasst ein virtueller Großbildfernseher mit dem aufglühenden Netflix-Logo. Ba-dam.

Netflix gönnt sich für den Schritt in die Welt des Gamings einen neuen Vizepräsidenten, der weiß, wie man Kunden bindet

Will man da überhaupt noch weg? Bei Netflix lässt sich eine Zusammenführung von Streaming und Gaming schon seit Jahren beobachten: Wo Amazon Prime Video auf Literaturverfilmungen setzt (weil man die Bücher dazu dann gleich bei Amazon bestellen kann), setzte Netflix auf Verfilmungen von Computerspielen. Am erfolgreichsten war bisher "The Witcher", das auf einer polnischen Fantasy-Buchreihe basiert, international aber durch das Spiel "The Witcher 3" bekannt geworden ist.

Das Unternehmen gönnt sich für diesen Schritt in die Welt des Gamings sogar einen neuen Vizepräsidenten, nämlich den Spieleentwickler Mike Verdu, der unter anderem schon bei Zynga arbeitete. Das ist die Firma, die das Facebook-Spiel "Farmville" zu verantworten hatte, das Millionen Spieler für Stunden an das soziale Netzwerk fesselte und sie mitten in der Nacht aufstehen ließ, um virtuelle Erdbeeren zu pflücken. Das ist die Idee, die inzwischen zum VR-Alpen-Chalet mit Netflix-Abo geführt hat. Der Mann weiß, wie man Kunden bindet.

Die Zukunft des Gaming als Streaming wird schon seit Jahren erwartet und niemand hat die Streamingtechnologie so perfektioniert wie Netflix. Noch ist nicht klar, wie genau man als Abonnent dann auf Netflix spielt, ob man neue Hardware zum Spielen braucht, einen eigenen Controller vielleicht. Und niemand weiß, welche Spiele verfügbar sein sollen. Die großen Hersteller wie Microsoft und Nintendo werden ihre Inhalte eher nicht bei Netflix verramschen, sondern sie selbst zum Abo anbieten. Ein Problem, das der Streamingdienst auch mit Filmstudios wie Disney hat, die lieber eine eigene Plattform starten, als Netflix etwas zur Verfügung zu stellen.

Der Philosoph James Williams identifizierte Aufmerksamkeit als Währung im digitalen Raum

Netflix reagiert damit auf eine Verschiebung des Streamings, die sich längst abzeichnet. Die Plattform Twitch, die als Streamingseite für Computerspiele anfing, gehört inzwischen zu Amazon und zeigt längst nicht mehr nur Menschen beim Zocken, sondern alles von Podiumsdiskussionen bis zu Literaturlesungen. Das funktioniert, weil das Publikum sich natürlich nicht klar in Gamer, Leser und Filmgucker einteilen lässt. Die meisten Abonnenten interessieren sich für verschiedene Angebote. Konkurrenz besteht aber nicht nur zwischen Netflix und Prime Video, sondern genauso zwischen Spotify, dem Bücherregal und der Xbox. Reed Hastings, der CEO von Netflix, bezeichnete einmal sogar den Schlaf als Konkurrenten für sein Unternehmen. Derzeit beschäftigen ihn neben dem unverschämten Schlafbedarf seiner Kunden wahrscheinlich auch die hinter den Erwartungen zurückgebliebenen Quartalszahlen und die hohen Schulden, die sein Unternehmen mit der Strategie des unbedingten Wachstums angehäuft hat.

Der Philosoph und ehemalige Google-Mitarbeiter James Williams identifizierte bereits 2018 die Aufmerksamkeit als die neue Währung im digitalen Raum. Von Smartphones bis zum Streamingdienst werden neue Technologien so entwickelt, dass sie die Nutzer möglichst lange an sie fesseln. Denn Abonnenten alleine genügen nicht mehr, um Milliardenschulden abzubezahlen, sie müssen auch das Angebot nutzen, sonst kündigen sie früher oder später wieder. Mit ihrer Aufmerksamkeit bezahlen die Kunden aber noch einmal: Denn etwas Aufmerksamkeit schenken bedeutet auch immer, dass etwas anderes diese Aufmerksamkeit nicht bekommt (die Familie, der Hund, das Buch auf dem Nachttisch, die ungeputzte Küche). Das gefällt den Digitalkonzernen, denn Zeit, die in ihre Produkte investiert wird, kann nicht in die Produkte der Konkurrenz fließen.

Streaming und Gaming: Netflix' erster Vorstoß ins interaktive Entertainment: Bei der "Bandersnatch"-Folge der Serie "Black Mirror" konnte das Publikum die Handlung mitbestimmen.

Netflix' erster Vorstoß ins interaktive Entertainment: Bei der "Bandersnatch"-Folge der Serie "Black Mirror" konnte das Publikum die Handlung mitbestimmen.

(Foto: Netflix)

Die sogenannte Gamification ist die Verschärfung dieser Strategie, denn mit nichts hält man die Nutzer so gefesselt, wie wenn man sie selbst etwas tun lässt. Mit solchen Konzepten wird bei Netflix längst experimentiert. Das bekannteste Beispiel ist die "Black Mirror"-Folge "Bandersnatch", in der die Zuschauer an mehreren Stellen entscheiden können, wie die Hauptfigur handeln soll. Fast grotesk, dass es in der Folge ausgerechnet um einen jungen Programmierer geht, der sich nicht von seinem Computer losreißen kann und immer mehr den Bezug zur Wirklichkeit verliert. Wie dieser junge Mann wird man leicht paranoid, wenn man bedenkt, dass diese Plattformen auch längst soziale Aspekte in ihr Geschäftsmodell einbauen. Bei Spotify kann man neuerdings Freunde zum gemeinsamen Musikhören einladen. Und sind soziale Netzwerke nicht auch eine Art Spiel?

Lieber schnell noch einmal zurück unter die VR-Brille von Oculus, wisch und weiter weg von Netflix und hin zu einer Anwendung, die noch für besondere Schmerzen wie auch Freude sorgen dürfte. Während man in seiner zu kleinen Stadtwohnung steht, lassen sich per VR ganz wunderbar edle Häuser und lichtdurchflutete Fincas virtuell besichtigen, die man sich real nie wird leisten können. Dafür müsste man schon irgendwo CEO sein.

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