Holocaust und BDSM:Was vom Menschen übrig bleibt

Boris Lurie, Manhattan Restaurant, April 2002 Boris Lurie * 18. Juli 1924 in Leningrad, Sowjetunion; 7. Januar 2008 in N

Boris Lurie in einem New Yorker Restaurant im Jahre 2002, sechs Jahre vor seinem Tod.

(Foto: imago images/Matthias Reichelt)

Boris Lurie überlebte die Shoah und wurde in New York zum Anti-Künstler. Über seinen verstörenden BDSM-Roman "Haus von Anita".

Von Reinhard J. Brembeck

"Es ist nichts Ungewöhnliches, daß eine dahingeschiedene Person einen israelischen Panzer fährt, da ja jedermann weiß, daß diese nunmehr siegreichen, mit dem Davidsstern bemalten Maschinen zu Lande, zu Wasser und in der Luft schnell und sicher von jenen gelenkt werden, deren Überreste in den ungekennzeichneten Gruben der feindlichen Erde im fernen Norden verschwunden sind." Ja, Boris Luries posthum vor fünf Jahren und jetzt auf Deutsch erschienenes Buch "Haus von Anita" ist sprachlich ungelenk, aber es sind Sätze wie herumsausende Ziegelsteine. Dieser 300-Seiten-Text fasziniert von Anfang bis zum Ende, ein Text, der sich trotz seines wüsten Settings und seiner keine Sextabus respektierenden Sprache mühelos lesen lässt. Es ist eine jüdische Selbstfindungsgeschichte, mit der archaischen Wucht der Tora nicht geschrieben, sondern ins Papier gemeißelt.

Zu Beginn führt Boris Lurie ein mondänes Sado-Etablissement im Manhattan der 1960er -oder 70er-Jahre vor, das des göttlichen Marquis de Sade würdig gewesen wäre. Vier Herrinnen halten sich in Anitas Haus vier Männersklaven, die sie nach festgelegten Regeln foltern, erniedrigen, sexuell ausbeuten. Wie sein großer Vorgänger lässt auch Lurie kein Detail bei diesen Sexorgien aus.

Vier Jahre verbrachte Lurie in Arbeits- und Konzentrationslagern

Boris Lurie lebte bis zu seinem Tod 2008 als Künstler in New York und war Mitbegründer von No!Art. Die Gruppe provozierte mit Kunstverweigerung, gefakten Fäkalien, Holocaust-Thematiken, jew art, Ablehnung des abstrakten Expressionismus, Hass auf die Pop Art. "Anitas Haus" passt bruchlos in diese Ästhetik. Lurie wurde 1924 in Leningrad als Industriellensohn in eine säkulare jüdische Familie geboren. Er verbrachte die Jugend in Riga, war dann vier Jahre lang in verschiedenen Arbeits- und Konzentrationslagern. Aus seiner Familie überlebten nur er und sein Vater, sie gingen zusammen nach New York, finanzierten sich durch Börsenspekulationen.

So ist, wenig verwunderlich, dieses Buch auch eine kaum kaschierte fiktive Autobiografie. Es ist die Suche eines Mannes nach seinen Wurzeln, ist die Auseinandersetzung eines Holocaustüberlebenden mit den Nazimassenmördereien, ist eine Aufarbeitung seiner Schuldgefühle als Überlebender. Und es ist ästhetisch ein Monolith von grandioser Einschlagskraft.

Der Held heißt wie der Autor Bobby, und er versteht erst nach und nach, was alle anderen schon wissen: Dass er ein Jude ist. Immer wieder rekurriert der Text auf den Wald von Rumbula bei Riga, wo 1941 die Nazis 25 000 Juden erschossen haben. Nach und nach bekommt so die schöne heile New Yorker Sado-Hip-Welt Risse. Die toten Juden von Rumbula tauchen auf und nisten sich ein in Anitas Haus, sie sind zudem die unabweisbare Anklage eines Verrats des Protagonisten.

Eine der Herrinnen, "Die Judy", fällt aus der Rolle. Auch sie verdrängt ihr Judentum, wird ihrerseits zum Folteropfer und zudem zum lebendigen Kunstobjekt stilisiert. Woraufhin auf einmal eine jüdische Kunsthändlerin auftaucht, die ganz begierig auf dieses neuartige Artefakt blickt, das alle Gegenwarts-Pop-Art deklassiert, und sich umgehend in den Kreis der Sadodiktatorinnen einfindet. Zynismus und Hellsichtigkeit in Bezug auf das vertrackte Verhältnis von Kunst und Markt kommen in dieser Figurenkonstellation grell krachend auf den Punkt.

Holocaust und BDSM: Boris Lurie: Haus von Anita. Aus dem Englischen und mit einem Vorwort versehen von Joachim Kalka. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 298 Seiten, 24 Euro.

Boris Lurie: Haus von Anita. Aus dem Englischen und mit einem Vorwort versehen von Joachim Kalka. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 298 Seiten, 24 Euro.

Lurie vermischt hemmungs- und gnadenlos Pornografie, Gewaltkapitalismus, Zynismus, KZ-Folter, Kunstmarkt und den american way of life. In diesem seinen mit Faustschlagsätzen formulierten "J'accuse", das macht das Ganze erträglich und eindringlich, fehlt aber alles Moraline, jedes Pathos, jedes Sentiment. Es gibt keine Beschwichtigungen, keine Beschönigungen, keine Friedensangebote. Schnörkellos stürzt der Text von Gemeinheit zu Gemeinheit, von Sado zu Maso, von Niedertracht zu Perfidie.

Aber Lurie will und schafft sehr viel mehr als eine in den übelsten Abgründen des Menschlichen berserkernde Anklageschrift. Er sucht und findet für sich und seinen Helden einen Ausweg. Wie die Mystiker, wie Juan de la Cruz, Hâfez, Teresa von Ávila und ʿAttar, begibt sich Boris Lurie auf eine imaginäre Reise, die sinnstiftend Leiden, Tod und Leben miteinander aussöhnt. In den "Vogelgesprächen" erzählt ʿAttar, wie sich die Gemeinschaft der Vögel auf die Suche nach dem legendären Supervogel macht. Die Reise ist ein Todesflug, fast kein Vogel überlebt. Und die dreißig Überlebenden müssen zuletzt erkennen, dass sie selbst jener sehnsüchtig gesuchte Simurgh sind, der Name bedeutet wörtlich: 30 Vögel.

Boris Lurie lässt seinen Bobby eine ähnlich fantastische Reise ins Ungewisse antreten, die ihn nach Israel führt, wo er, siehe oben, als untoter Panzerfahrer zu seiner Bestimmung findet. Die Coda ist dann aber ein Brief der New Yorker Kunsthändlerin an die ebenfalls in Israel zu Tode gekommene und von ihr einst als Kunstkultobjekt begehrte Judy: "Ich hatte daran gedacht, Sie im Land unserer Väter aufzustellen. Denken Sie nur, wie schön Die Judy im Skulpturengarten in Jerusalem ausgestellt hätte. Unsere Ahnen haben sich seit unvordenklichen Zeiten in diese Richtung verneigt, also stellen Sie sich vor, Sie wären an den Toren unserer Ewigen Stadt ausgestellt!"

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