Marta Cartabia:Die Frau, die Italiens Justiz reformiert

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Italiens Justizministerin Marta Cartabia gilt manchen schon als mögliche zukünftige Regierungschefin oder Staatspräsidentin. (Foto: Samantha Zucchi/Imago/Insidefoto)

Die Forderung dazu kommt aus Brüssel: ohne Reformen des chronisch langsamen, oftmals kafkaesken italienischen Rechtsapparats keine Milliarden aus dem Wiederaufbaufonds. Also ist Scheitern keine Option.

Von Oliver Meiler, Rom

Seit einigen Jahren fragt sich Italien: Bricht diese Frau durch alle Glasdecken? Marta Cartabia, 58 Jahre alt, aus San Giorgio su Legnano bei Mailand, kommt für alle hohen Ämter infrage, die die Republik zu vergeben hat - wenigstens in der Deutung der Experten. Cartabia war bereits Präsidentin des italienischen Verfassungsgerichts, als erste Frau überhaupt in der Geschichte. Seitdem gilt sie immer mal wieder als mögliche erste Regierungschefin des Landes und als mögliche erste italienische Staatspräsidentin.

In der Zwischenzeit ist die parteilose Rechtsprofessorin mit der auffällig unmodischen runden, rahmenlosen Brille Justizministerin im Kabinett von Premier Mario Draghi. Das ist eine Bewährungsprobe, und keine leichte. Man kann sogar sagen, dass Cartabia gerade den schwierigsten Job der Regierung hat. Sie soll die italienische Justiz reformieren: Schneller und gerechter soll diese werden. Viele Vorgänger sind schon gescheitert. Früher kollidierten zuweilen auch persönliche Interessen spektakulär mit jenen des Staates. Es gab eine Zeit, da schrieb Italiens Rechte die Gesetze so um, dass sie ihrem damaligen Chef, Silvio Berlusconi, in seinen vielen Prozessen halfen. Berlusconi ist noch immer da, er redet auch jetzt wieder mit.

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Doch Scheitern ist diesmal keine Option. Die Europäische Union hat das Geld für den Wiederaufbau Italiens nach der Pandemie, etwa 200 Milliarden Euro, an eine Reihe von Bedingungen geknüpft. Eine davon ist die Reform der Justiz. Die ist so langsam, dass sie schon lange nicht mehr westeuropäischen Standards genügt - ein wahrer Skandal. Er setzt den Bürgern zu, und er schreckt Investoren aus dem Ausland ab. Wer will schon riskieren, bei geringsten Streitfragen in jahrelange Verfahren verwickelt zu werden?

In Italien kommen auf 100 000 Einwohner nur zwölf Staatsanwälte, das ist eine sehr niedrige Quote. Jeder "Procuratore" muss pro Jahr 1330 Ermittlungsfälle behandeln, achtmal so viele wie die Kollegen im europäischen Durchschnitt. Auch deshalb beginnt ein Verfahren in Italien oft erst mehrere Jahre nach dem Vergehen. Und wenn es dann mal läuft, wird es kafkaesk.

Ein Berufungsverfahren in Neapel dauert 2031 Tage - im Schnitt

Das italienische Justizsystem kennt drei Gerichtsinstanzen. Erst das Urteil der dritten Instanz, des Kassationshofs, beendet einen Prozess definitiv. Am langsamsten arbeitet die zweite Instanz: Berufungsverfahren an den Appellationsgerichten dauern in Italien im Durchschnitt 835 Tage. Die regionalen Unterschiede sind dabei enorm: In Neapel, dem nationalen Schlusslicht, liegt die durchschnittliche Dauer bei 2031 Tagen, man muss sich das vorstellen: fünfeinhalb Jahre.

Ebenfalls auf den hintersten Plätzen liegen Reggio Calabria, Catania und Lecce, dann kommen schon Rom und Venedig. Wenig verwunderlich: In Mailand sind die Gerichte schneller, dort reichen durchschnittlich 335 Tage. Tugendhaft ist aber auch eine Stadt im tiefsten Süden: Palermo mit 445 Tagen. Oft dauern Prozesse so ewig lange, dass sie verwirken - wegen eingetretener Verjährung. Das liegt nicht nur am mangelnden Personal. Italiens Justiz ist kaum digitalisiert, vieles läuft noch analog. Oft fehlt es auch am Nötigsten, etwa am Kopierpapier für die Akten.

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Die EU verlangt, dass Zivilprozesse mindestens 40 Prozent und Strafprozesse 25 Prozent schneller fertig werden. Milliarden gegen eine Modernisierung des Apparats also. Dafür müssen bis Ende des Jahres Gesetze und Kodexe neu geschrieben werden. Mario Draghi kann es nicht schnell genug gehen. Vor dem Sommerurlaub werden nun die ersten Schritte verabschiedet, die Regierungsmehrheit hat sich am Donnerstagabend in den wichtigsten Punkten geeinigt. An diesem Freitag kommt das Geschäft ins Parlament, es trägt den Namen der Ministerin mit der verheißungsvollen Karriere: "Riforma Cartabia".

Im Wesentlichen kreist die Reform um die Frage, wie lange Prozesse in zweiter und dritter Instanz maximal dauern dürfen. Ausgenommen sind Mordprozesse, Verfahren wegen Großkorruption, solche gegen mutmaßliche Mafiosi und Terroristen, wohl auch schwere Drogendelikte. In allen anderen Fällen soll ein Berufungsprozess in Zukunft nach zwei Jahren fertig sein, einmalig verlängerbar um ein Jahr. Der Kassationshof hat noch ein beziehungsweise eineinhalb Jahre Zeit, ein Urteil zu sprechen. Verstreicht die Zeit, implodiert der Prozess.

Damit das höhere Tempo gelingt, sollen neue Richter und Gerichtsdiener angestellt werden. Kleine Vergehen werden mit Ordnungsbußen bestraft, damit das System entlastet wird. Kritiker sagen, Beschleunigung und Lockerung würden dazu führen, dass die Bereitschaft zum Gesetzesbruch eher noch wachsen werde. Mafiajäger hatten schon vor einem "Tod vieler Prozesse" gewarnt. Es geht also um viel.

Kritische Töne, zum ersten Mal in ihrer Karriere

Cartabia musste wochenlang zwischen den Parteien vermitteln, das ist gerade in Italien eine zermürbende Aufgabe. Sie sage immer "Sowohl als auch", schreibt die Zeitung Domani - und meint das nicht nett. In der Politik müsse man auch mal klar Stellung beziehen. Domani wirft der Ministerin zum Beispiel vor, dass sie sich nicht entschlossen genug gegen die Missstände in Italiens Gefängnissen und gegen die brutale Strafexpedition von Wärtern in einer Haftanstalt bei Neapel in der ersten Pandemiewelle ausgesprochen habe. "Drei Wochen brauchte sie, bis sie sich im Parlament zeigte." Solche kritischen Töne ist Cartabia nicht gewohnt, bisher war da immer nur Lob und Ehre.

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Müsste man sie ideologisch verorten, würde man sie wohl eine rechte Christdemokratin nennen. Groß geworden ist sie im Kreis der konservativen katholischen Bewegung Comunione e Liberazione, der sie bis heute nahesteht. Als sie mit 48 Jahren Verfassungsrichterin wurde, dachte man, sie würde in gesellschaftspolitischen Fragen die konservative Haltung ins Gremium tragen, etwa bei Partnerschaften für Homosexuelle. Doch sie erwies sich als liberaler als erwartet und wiegelte oft ab - sowohl als auch. Beim Urteilen, sagte sie einmal, sollte der Richter immer zuerst in die verängstigten Augen derer blicken, die ins Gefängnis müssen.

Mit ihrer Art gelang es ihr über die Jahre, ein Netzwerk mit vielen sehr prominenten Fürsprechern aufzubauen, quer durch die Parteienlandschaft. Ihre Ambitionen sind allen bekannt, auch wenn sie sie hinter ihren drei Kindern versteckt. Sie sagt gern: "Ich bin vor allem Mutter."

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