Ausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen:Lust auf das Verborgene

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Am Nabelschnurdraht ragen sie aus der Wand: Mariechen Danz bestückt einen ganzen Saal der Kunsthalle Recklinghausen mit Abgüssen von Organen. (Foto: Roman März)

Privater Mythos: Die Arbeiten von Mariechen Danz stellen Fragen an den Körper, auf die die Wissenschaft keine Antwort haben kann.

Von Till Briegleb

Wenn Künstlerinnen oder Künstler in ihrer Arbeit die Wissenschaften kritisieren, wird es schnell esoterisch. Der angeblich einseitigen und fragmentierten Sicht insbesondere der exakten Wissenschaften wird dann der Entwurf eines ganzheitlichen Weltbilds entgegengehalten. Dort halten unbekannte Kräfte archaische Weisheiten verborgen, die nur von schamanistisch befähigten Menschen erkannt werden können. In dieser Tradition, die nicht unwesentlich von Joseph Beuys und seinem anthroposophisch gefärbten Kunstbegriff begründet wurde, steht auch die Arbeit von Mariechen Danz. Die Deutsch-Irin bezieht sich in ihren Installationen und Ritualen zum "organlosen Körper" zwar eher auf die französischen Metaphern-Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Aber die künstlerischen Übertragungen, die sie aus deren Deutungspoesie ableitet, folgen vor allem der Idee vermeintlicher Magie.

Dass sich in Mariechen Danz' Objekten und Aufführungen keine verständlichen Argumente für oder gegen irgendetwas finden lassen, auch wenn die Essayistinnen im Katalog ihrer Einzelausstellung, die im Rahmen der Ruhrfestspiele in der Kunsthalle Recklinghausen eröffnet wurde, ein ganzes Arsenal davon zu entdecken meinen, macht ihre Arbeiten trotzdem nicht zu schlechter Kunst. Individuelle Mythologien bieten spätestens seit Harald Szeemanns Documenta gleichen Titels 1972 ein weites und interessantes Feld für private Zeichenwelten. Diese wecken aber vornehmlich Empfindungen und bleiben auf konkrete Fragen maximal unpräzise. Wenn also Mariechen Danz einen ganzen Saal mit Abgüssen von Organen bestückt, die am Nabelschnurdraht aus der Wand kommen und in denen Farben und Objekte schimmern, dann ist das ein faszinierendes Spiel mit verborgener Innerlichkeit, aber kein Argument.

Menschenfiguren leuchten, wenn man die Hand auflegt

Immer geht es um den menschlichen Körper bei Mariechen Danz, um seine Schichten und verborgenen Elemente. Dazu hat sie bereits mehrere transluzente Menschfiguren geschaffen, die in tieferen Ebenen mit wärmereagierender Farbe bemalt sind, sodass sie durch Handauflegen innerlich leuchten (während Corona dem Besucher leider verboten). Auch das erinnert einerseits an esoterische Medizin, ist aber gleichzeitig eine haptische Überraschung, die Lust auf das Verborgene stimuliert. Denn natürlich ist in jeden Körper viel mehr eingeschrieben als die genetischen Informationen. Was der Mensch isst, fühlt, denkt, wonach er seine Entscheidungen richtet und wie er sich selbst belügt, all das hinterlässt Spuren in den Organen. Nach dem Konzept vom "organlosen Körper" soll er diese zivilisatorischen Vorprägungen, die ihn als vermeintliches "Wissen" unsichtbar lenken, loswerden, um zu freien Entscheidung zu gelangen - so die Botschaft von Deleuze und Guattari in der plastischen Ausformung von Mariechen Danz.

Danz hat zu diesem Konzept der Befreiung vom bestimmenden Wissen einige raunende Spektakel entwickelt, etwa 2018 im Münchner Haus der Kunst, dort getaucht in das rosa Licht embryonaler Weltwahrnehmung. International bekannt wurde sie mit ihrer Performance auf der Venedig Biennale 2017, wo sie im Arsenale mit drei weiteren Performern singend, tanzend, schreibend und predigend die Frage umkreiste, wie wir wissen können, was wir wissen. Danz bemüht dazu sowohl Inuit-Gesänge wie logopädische Übungen, Texte des wissenschaftlichen Kritikers einer objektiver Wissenschaft, Alfred North Whitehead, oder Weltkarten aus unterschiedlichen historischen Epochen. Sie fiktionalisiert dabei den aufgebahrten Plastikkörper als Wesen zwischen Leben und Tod und singt dazu sehr schön und ergreifend meist eher unverständliche Poesie zum Thema "How to know?"

Weltkarten werden zum Beispiel sich wandelnder Sicherheiten

In den drei Sälen und vier Schaufenstern des Recklinghauser Museums ist der Kern dieser grenzverwischenden Mythenbildung mit dem rätselhaften Titel "Clouded in Veins" (wörtlich: "Getrübt in den Venen") in drei großen Rauminstallationen erfasst. Ein Saal zeigt den durchlässigen Menschen mit dem Namen Womb Tomb in einem offenen Mausoleum aus 2000 gebrannten Steinen, in die Organe, Knochen und Körperteile gedrückt sind (eine Arbeit von der Istanbul Biennale 2019). Die zweite Halle versammelt die gegossenen Körperfragmente sowie Arbeiten über die menschliche Hülle, und was man in sie hineingeheimnissen kann. Und schließlich zeigt der Dachsaal dieses ehemaligen Bunkers gestanzte Riesenplatinen in rostigen Rahmen, auf denen Danz die verschiedenen Weltkarten als Beispiel wandelnder Sicherheiten collagiert hat.

Hier sind auch Videos ihrer Performances zu sehen, die bei aller Rätselhaftigkeit mit starkem Gespür für Beeindruckung inszeniert sind. Alle Einzelelemente, die in der Ausstellung versammelt sind, werden hier durch die starke Präsenz der Künstlerin, ihren Gesang und die große Theatralik zu einem Gesamtkunstwerk verbunden, das an die wichtigsten Vorgänger im Bereich der individuellen Mythologien vom Körper erinnert, etwa Paul Thek, Marina Abramović oder Hermann Nitsch. Nur an der Autorität der Naturwissenschaften, die in den aktuellen Umweltkrisen die einzig seriösen und unbestechlichen Stimmen gegenüber politischer Lobbyhörigkeit und populistischem Aberglauben bieten, rührt Mariechen Danz' konzeptgebende Frage, "Wie sollen wir wissen?", gar nicht. Sie schafft ihre eigene Welt der Körperbilder als Hinweis, dass es immer Dinge zwischen Menschen gibt, auf die MINT-Fächer keine Antwort haben.

Mariechen Danz: Clouded in Veins. Kunsthalle Recklinghausen. Bis 29. August. Katalog in Vorbereitung.

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