Mein Leben in Deutschland:Die verborgene Meinung der Geflüchteten

Sommer an einem Badesee.

Angekommen: Eine Migrantenfamilie genießt die Sonne am Riemer Badesee im Osten von München.

(Foto: SVEN SIMON/dpa)

Wie denken Migranten über Politik und Gesellschaft in der neuen Heimat? Das bleibt meist im Dunkeln. Aber einige Anhaltspunkte gibt es, meint unser Kolumnist Yahya Alaous.

Von Yahya Alaous

In dem Maße, wie sich das Leben der syrischen Flüchtlinge in Deutschland stabilisiert, wird es sinnvoll, ihnen eine Art "allgemeine Meinung" zuzusprechen. Das gilt vor allem für wichtige Ereignisse oder bestimmte Anlässe. Ich meine hier nicht die Meinung zur Situation in Syrien oder zum syrischen Regime, die ja in der Regel feststeht. Mir geht es um die wichtigen Themen hier in Deutschland oder Europa.

Das Entstehen einer solchen öffentlichen Meinung ist ein Zeichen dafür, dass die Flüchtlinge mit ihrem neuen Leben interagieren und zu dem, was vor sich geht, Stellung beziehen. Es ist ein Beweis für eine Art von Integration oder vielleicht auch mangelnder Integration.

Es gibt einige Forschungszentren, die sich mit Flüchtlingsthemen befassen, und einige staatliche Institutionen oder NGOs, die Statistiken zur Verfügung stellen. Doch es scheint nicht einfach zu sein, über die öffentliche Meinung der Flüchtlinge zu sprechen. Immerhin lassen sich Faktoren finden, die eine wichtige Rolle bei der Bildung der öffentlichen Meinung unter Flüchtlingen in Deutschland spielen: Medienkanäle, Intellektuelle und Aktivisten sowie Geistliche, die sich über Facebook, Youtube, Twitter und Instagram an Flüchtlinge wenden.

Yahya Alaous

arbeitete in Syrien als politischer Korrespondent einer großen Tageszeitung. Wegen seiner kritischen Berichterstattung saß der heute 47-Jährige von 2002 bis 2004 im Gefängnis, sein Ausweis wurde eingezogen, ihm wurde Berufsverbot erteilt. Nach der Entlassung wechselte er zu einer Untergrund-Webseite, die nach acht Jahren vom Regime geschlossen wurde. Während des Arabischen Frühlings schrieb er unter Pseudonym für eine Oppositions-Zeitung. Als es in Syrien zu gefährlich wurde, flüchtete er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern nach Deutschland. Seit Sommer 2015 lebt die Familie in Berlin. In der SZ schreibt Yahya Alaous regelmäßig über "Mein Leben in Deutschland".

Die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge drückt ihre Meinung immer noch in ihrer Originalsprache aus, nur wenige benutzen Deutsch, um ihre Position zu einem Ereignis oder einem Thema zu verdeutlichen. Und wenn sie dies tun, übermitteln sie dem engen Kreis, mit dem sie kommunizieren, oft gleichzeitig Botschaften. Wie die Flüchtlinge nun etwa über deutsche Institutionen denken, lässt sich schwer verifizieren. Dabei könnte dies die Entscheidungen deutscher Behörden, die Flüchtlinge betreffen, beeinflussen.

Emotional und auf Angst beruhend

Dadurch, dass ich private Seiten auf Facebook, Twitter und anderen sozialen Medien sowie Diskussionen in Foren und privaten Gruppen verfolge, habe ich festgestellt, dass die allgemeine Meinung unter Flüchtlingen oft emotional ist, von Mund zu Mund weitergegeben wird und auf Angst oder einem Mangel an Informationen beruht.

Über Angelegenheiten, die mit ihrem Leben in Europa zu tun haben, haben Flüchtlinge inzwischen eine klarere Meinung. Das gilt etwa hinsichtlich der Terroranschläge in Österreich, das Verbrechen in Hanau oder die Entscheidungen der dänischen Regierung über die Rückführung syrischer Flüchtlinge, denn hier geht es schlicht um ihre Interessen.

Unklar wird es, wenn etwas weniger eindeutig ist, wenn die Menschen mehr Informationen brauchen, um ihre Position zu finden. In diesem Fall spielen Medien, Aktivisten und die sogenannten Influencer der öffentlichen Meinung eine große Rolle. Aber wer sind sie in diesem Fall?

Im Oktober 2020 wurde in Frankreich ein furchtbares Verbrechen begangen. Ein islamischer Extremist ermordete einen Lehrer, der seinen Schülern beleidigende Bilder des Propheten Mohammed gezeigt hatte. Solche Verbrechen veranlassen viele Flüchtlinge dazu, Stellung zu beziehen, weil Aspekte ihres Lebens - wie Islam, Asyl, Bildung, Angst vor Extremismus - betroffen sind. Und weil sie vermeiden wollen, dass ihr Schweigen als Akzeptanz oder Kapitulation vor der Realität angesehen wird.

Gefährliche Einstellungen

Ganz überwiegend verurteilten Flüchtlinge diesen Mord, und trotzdem kam es zu dummen Haltungen, nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch in einigen Diskussionen von Angesicht zu Angesicht. Das Opfer wurde für das Geschehen verantwortlich gemacht: "Wenn der französische Lehrer das nicht getan hätte, wäre er nicht getötet worden."

Solche Haltungen sind gefährlich, auch weil sie den Flüchtlingen selbst schaden. Genährt werden sie von Stimmen, die einen Einfluss auf die öffentliche Meinung nicht nur in Deutschland oder Europa, sondern auch in anderen Teilen der Welt haben. Diesen Stimmen muss etwas entgegengesetzt werden, wir müssen sicherstellen, dass auch für die Flüchtlinge Gerechtigkeit, Rechtsstaat und das menschliche Leben über allem anderen stehen.

Wenn manche Flüchtlinge ein solches Verbrechen nicht öffentlich verurteilen, dann heißt das nicht, dass sie es billigen. Es hängt eher damit zusammen, dass viele in ihren Herkunftsländern gesellschaftlich und politisch neutral geblieben waren und sich von öffentlichen Angelegenheiten ferngehalten hatten.

Viele Deutsche glauben, dass die öffentliche Meinung der Türken in Deutschland in irgendeiner Weise mit dem Präsidenten Erdoğan verbunden ist, da er Einfluss auf die Imame der Moscheen hat. Die syrischen Flüchtlinge haben keinen solchen nationalen Bezug, wenn es um ihre Positionen geht; wohl aber werden sie von Klerikern beeinflusst.

Während der Pandemie hat die religiöse Aktivität im Internet zugenommen, um die persönlichen Treffen zu kompensieren, die hauptsächlich in Moscheen und sozialen Einrichtungen stattgefunden hatten. Wer sind die maßgeblichen Leute? Welche Ideen verbreiten sie unter den Flüchtlingen? Das muss beobachtet und untersucht werden. Es wäre nicht gut, wenn die öffentliche Meinung unter den Flüchtlingen allzu sehr von unbekannten Strömungen beeinflusst wird.

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