Litauen:Die EU stemmt sich Diktator Lukaschenko entgegen

Lesezeit: 3 min

Ein improvisiertes Lager in der Nähe von Kapciamiestis, an Unterkünften für die Flüchtlinge fehlt es in Litauen. (Foto: Petras Malukas/AFP)

Innenkommissarin Johansson verspricht Vilnius Hilfe beim Grenzschutz und wirft Belarus einen "Akt der Aggression" vor: Machthaber Lukaschenko nutze Migranten auf zynische Art aus.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Ylva Johansson hat mehrere Botschaften, die sie immer wieder betont. "Litauen wird nicht alleingelassen", sagt die EU-Innenkommissarin in Vilnius an der Seite von Premierministerin Ingrida Šimonytė. Diese bittet seit Wochen die anderen EU-Mitglieder und die Kommission um Hilfe, denn immer mehr Menschen strömen von Belarus aus in die kleine Baltenrepublik. 81 Personen wurden 2020 registriert, nun sind es bereits 3832. Zwei Drittel von ihnen kommen über den Irak. Bald werden mehr als 100 Grenzschützer der EU-Agentur Frontex im Land sein, verspricht Johansson. Zwei Helikopter und 39 Geländewagen sind bereits im Einsatz; auch 29 Beamte von Europol sind angekommen.

Ihrem Ruf, klare Worte zu wählen, wird die Schwedin auch in Litauens Hauptstadt gerecht: "Die Situation wird von Tag zu Tag schlechter und ist absolut inakzeptabel." Es gehe nicht um eine Migrationskrise, sagt sie: "Dies ist vor allem ein Akt der Aggression des Lukaschenko-Regimes." Von Vilnius aus sind es nur 50 Kilometer bis nach Belarus, wo seit 1994 der Autokrat Alexander Lukaschenko regiert. Johansson erinnert daran, was seit August 2020 passiert ist: Lukaschenko habe keine freien Wahlen zugelassen, einen Flug zwischen zwei EU-Staaten umgeleitet, um einen Oppositionellen zu verhaften, und wolle die EU destabilisieren.

Dass Lukaschenko sich für die Sanktionen der EU rächen will, gilt in Brüssel als unstrittig. Von Kontensperrungen und Einreiseverboten betroffen sind neben seiner Familie auch Oligarchen. Durch Einschränkungen für die staatliche Phosphat- und Kali-Industrie sollen Lukaschenkos Mittel begrenzt werden. Dieser wird jedoch weiter von Russlands Präsident Wladimir Putin gestützt. Bereits Ende Mai hatte Lukaschenko gedroht, die EU "mit Migranten und Drogen zu überschwemmen".

70 Jahre Flüchtlingskonvention
:"Einige Länder wollen die Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen infrage stellen"

70 Jahre ist die Genfer Flüchtlingskonvention alt. Gillian Triggs vom UNHCR, stellvertretende Hochkommissarin für Flüchtlinge, hält sie für so bedroht wie nie. Im Interview spricht sie außerdem über das Erbe von Angela Merkel und Corona als Ausrede.

Von Andrea Bachstein

Die Grenze zwischen Belarus und Litauen, das dem Schengenraum angehört, ist fast 680 Kilometer lang, von denen jedoch nur ein Drittel gesichert ist. Die Verstärkung der Grenze, mit Zäunen oder Stacheldraht, ist Litauens Ziel. Für Johansson ist klar: Die gemeinsame Außengrenze müssen die EU-Staaten schützen. An Finanzhilfen aus Brüssel werde es nicht fehlen: "Es muss mehr getan werden, denn die Lage ist wirklich eine Herausforderung." In Brüssel hört man, dass belarussische Grenzschützer einschreiten, wenn sie Landsleute antreffen, die möglicherweise zur Opposition gehören. Für alle anderen sei der Weg frei.

Lukaschenko führe einen "hybriden Krieg"

Knapp drei Millionen Menschen leben in Litauen, und bisher hatte das Land nichts mit globalen Migrationsbewegungen zu tun. Würde man die Zahl der registrierten Migranten auf Deutschlands Bevölkerung übertragen, so wären dies etwa 100 000 Menschen. Auch wenn Johansson Litauens Politiker und Bevölkerung dafür lobt, "ruhig, entschlossen und transparent auf diese Bedrohung" zu reagieren, wächst intern die Kritik.

Auch deshalb wählen Präsident Gitanas Nausėda und Premierministerin Šimonytė schärfere Worte. Lukaschenko führe einen "hybriden Krieg gegen die EU", sagte Šimonytė vor einer Woche zu Ursula von der Leyen, der Präsidentin der EU-Kommission. Der zweitägige Besuch von Johansson ist eine direkte Folge des Telefonats, zudem wird der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell aktiv.

Dieser hatte am Freitag für alle 27 Mitgliedstaaten die "Instrumentalisierung der Migranten" kritisiert. Weitere Strafen werden nicht ausgeschlossen. Die Beteiligung am Menschenschmuggel, die litauische Offizielle den belarussischen Behörden vorwerfen, müsse allerdings belegt werden. Borrell soll auch den Irak dazu bringen, die entsprechenden Netzwerke aufzuspüren und Flüge nach Belarus zu stoppen. Danach sieht es aktuell nicht aus, im Gegenteil: Während bisher jede Woche Iraqi Airways viermal sowie Fly Baghdad zweimal Minsk ansteuern, berichten unabhängige Medien, dass von August an auch Flüge aus Sulaimanya, Basra und Erbil aufgenommen werden.

Druck will die Kommission auch auf die Türkei ausüben, denn viele Migranten aus afrikanischen Ländern kommen über Istanbul nach Minsk, wo sie dem Vernehmen nach zunächst in Hotels untergebracht werden. Da sowohl der Irak als auch die Türkei viel Unterstützung aus Brüssel erhalten, ist man dort zuversichtlich, die neue Migrationsroute begrenzen zu können. Nicht nur aus Sorge um die Stabilität im eigenen Land warnen litauische Politiker davor, im Sommer nichts zu tun. Das Thema gehe alle an. So verhandle Lukaschenko nicht nur mit Pakistan über Visa-Erleichterungen: Nach Recherchen litauischer Medien zieht es die meisten Migranten nach Deutschland. Laut einem Bericht des Internetportals 15min.lt kostet die mit einem legalen Flug nach Minsk beginnende Reise aus dem Irak in die Bundesrepublik, wenn alles gut geht, insgesamt etwa 2500 Euro.

Von "falschen Hoffnungen und falschen Routen" hätten ihr auch die Menschen erzählt, die nach einem illegalen Grenzübertritt nahe dem Ort Padvarionys aufgegriffen worden seien, berichtet die Sozialdemokratin Johansson. Machthaber Lukaschenko nutze diese Menschen "auf zynische Art" aus. Bereits am Sonntag werden Expertinnen und Experten in Litauen eintreffen und dabei helfen, die EU-Außengrenze zu schützen und die Unterbringung der Migranten zu verbessern. Gerade Familien mit kleinen Kindern müssten gut versorgt werden, betont Johansson.

© SZ/dpa - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

MeinungBelarus
:Die Sprinterin, die aus der Kälte kam

Kristina Timanowskaja blieb in Tokio unbeugsam, als die Sportfunktionäre von Belarus sie schikanierten. Wie üblich setzte das Regime auf Brutalität - und erlebte ein PR-Desaster.

Kommentar von Silke Bigalke

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: