Krebs:Wenn Überleben eine Frage des Geldes ist

Students and employees of the Tripura Institute of Paramedical Sciences distribute fruit to cancer patients on World Can

Bis heute gibt es Frauen in Indien, die ihr Haus verkaufen oder Kredite mit hohen Zinsen aufnehmen, um die Krebsbehandlung zu bezahlen. Nun können sie Hoffnung auf preiswertere Therapien schöpfen.

(Foto: Abhisek Saha / Le Pictorium via www.imago-images.de/imago images/Le Pictorium)

Moderne Arzneien gegen Krebs sind in ärmeren Ländern wie Indien meist unerschwinglich. Grund sind extrem strenge Regeln für preiswerte Nachahmerprodukte. Sie sollen sich jetzt ändern.

Von Astrid Viciano und Michele Catanzaro

Jeder muss irgendwann einmal sterben, versuchte sich Chaitali Haldar damals zu trösten. 42 Jahre war die Sozialarbeiterin alt, als Krebsmediziner einen besonders aggressiven Tumor in ihrer rechten Brust entdeckten. Zwar gebe es eine vielversprechende Behandlung dagegen, hatten ihr die Ärzte vom All India Institute of Medical Sciences in Neu-Delhi vor zehn Jahren erklärt, doch würde sie für das Medikament zehn Mal so viel zahlen müssen, wie sie im Monat verdiente. Für eine einzige Infusionsflasche. Zwölf davon würde sie für ihre Therapie brauchen. Haldar, die seit Jahren für die Rechte von Gewaltopfern kämpfte, wusste: Sie würde ihren eigenen Kampf verlieren. Sie versuchte, sich damit abzufinden, dass die Therapie für sie unerreichbar war.

Doch Chaitali Haldar überlebte. Nicht nur, dass ihre Arbeitskollegen damals umgerechnet fast 25 000 Euro sammelten, um ihre Behandlung zu bezahlen. Vor allem ließ ihre Not ihrer damaligen Chefin Kalyani Menon-Sen keine Ruhe mehr. "Die Situation meiner Kollegin machte mich fassungslos", sagt die Frauenrechtlerin. Menon-Sen beschloss im Jahr 2013, in Indien eine landesweite Kampagne für Frauen mit Brustkrebs ins Leben zu rufen: "Es kann nicht sein, dass sich nur reiche Patientinnen eine moderne Krebstherapie leisten können." In Indien müssen Frauen die Behandlung meist aus eigener Tasche zahlen.

Nun endlich, nach acht Jahren, zeichnet sich Hoffnung für arme Krebspatientinnen ab. Nach langem Kampf indischer wie auch kolumbianischer Experten und Aktivisten hat die Weltgesundheitsorganisation WHO vor ein paar Wochen den Entwurf neuer Richtlinien vorgelegt. Sie sollen es vereinfachen, billige Kopien teurer Arzneien zu entwickeln - und damit die Preise senken. "Das ist ein großer Schritt", sagt Huub Schellekens, emeritierter Professor für Pharmazeutische Biotechnologie an der Universität Utrecht, der sich ebenfalls für den Entwurf eingesetzt hat. Biosimilars nennen Mediziner die billigen Kopien. Im Gegensatz zu Generika, bei denen chemische Wirkstoffe wie etwa Paracetamol nachgebaut werden, sind die Vorbilder hier biologische Arzneien. Antikörper zum Beispiel, die Pharmafirmen in lebenden Zellen produzieren, mithilfe komplizierter, biotechnologischer Verfahren. Die neuen Richtlinien der WHO werden also ermöglichen, dass künftig mehr Pharmafirmen billige Kopien biologischer Arzneien für potenziell lebensrettende Behandlungen herstellen können.

Wie groß die Unterschiede zwischen Arm und Reich beim Zugang zu Medikamenten oder Impfstoffen sind, hat nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie gezeigt. Bei modernen Krebsbehandlungen ist die Kluft besonders groß. Dabei schätzt die WHO, dass im Jahr 2040 allein in den Entwicklungsländern doppelt so viele Menschen an Krebs erkranken werden wie heute. In Indien erhält schon heute alle vier Minuten eine Frau die Diagnose Brustkrebs, alle 13 Minuten stirbt eine Patientin daran. Es ist ein Krebsleiden, das heute gut zu behandeln ist, in Deutschland leben fünf Jahre nach Diagnose noch fast 90 Prozent der Patientinnen. In Indien sind es gerade einmal 60 Prozent. Das sollen die neuen Regularien nun ändern.

Bereits im Jahr 2009 hatte die WHO erstmals Richtlinien für Biosimilars erstellt. "Damals war nicht einmal klar, was Biosimilars genau sind, in vielen Ländern gab es noch keine Regulierungen dazu", sagt Ivana Knezevic, Leiterin der zuständigen Arbeitsgruppe für Normen und Standards biologischer Arzneien bei der WHO. Die Richtlinien der Organisation sollten vor allem Entwicklungsländern eine Grundlage für eigene Leitfäden bieten, meist wurden die Vorgaben direkt in die nationale Gesetzgebung übernommen.

Die bisherigen Regeln spielen vor allem großen Pharmakonzernen in die Hände

Allerdings spielen die bisherigen Richtlinien vor allem großen Pharmakonzernen in die Hände. Bislang nämlich muss sich ein Biosimilar nicht nur in Labortests bewähren. Die Medikamentenkopie muss auch klinische Studien durchlaufen, ihre Wirksamkeit im direkten Vergleich mit dem Originalpräparat beweisen. Eine Hürde, die kleine Pharmafirmen meist nicht überwinden können: Allein schon das teure Originalmedikament für die Studien einzukaufen, ist für viele von ihnen unerschwinglich. "Das Biosimilar einer modernen Antikörpertherapie in Indien zu entwickeln, kostet zwischen drei und fünf Millionen Dollar", sagt Hemanth Nandigala, Geschäftsführer des indischen Pharmaunternehmens Virchow Biotech. Und klinische Studien allein machten 70 Prozent der Gesamtkosten aus.

Daher folgen manche Länder nicht den WHO-Richtlinien. Kolumbien etwa zwingt seine Pharmafirmen nicht, große klinische Vergleichsstudien vorzunehmen. Indien führte erst im Jahr 2012 nationale Richtlinien zu Biosimilars ein. Was allerdings zur Folge hat, dass sich die großen Hersteller der Originalmedikamente besonders stark gegen die billige Konkurrenz wehren. "Das ist sehr bedauerlich und wirft kein gutes Licht auf diese Firmen", sagt Kiran Mazumdar Shaw, Vorsitzende des indischen Biosimilar-Unternehmens Biocon.

Den Widerstand größer Firmen erlebte auch die Frauenrechtlerin Menon-Sen, als sie mit ihrer landesweiten Brustkrebs-Kampagne begann. Endlich sollte das erste Biosimilar des Wirkstoffs Trastuzumab auf den indischen Markt kommen, jener Antikörper-Therapie, die auch die Krebspatientin Chaitali Haldar erhielt. Die indische Firma Biocon hatte dafür zwar klinische Vergleichsstudien durchgeführt, aber nicht in dem Umfang, wie sie die WHO-Richtlinien verlangten. Prompt erreichte der Pharmakonzern Roche eine einstweilige Verfügung gegen das Unternehmen. Biocon durfte sich in der Werbung für sein Biosimilar nicht auf das Originalpräparat des Schweizer Unternehmens beziehen. "Es hat drei Jahre gedauert, bis Biocon ihr Produkt frei vermarkten durfte", sagt der Jurist K.M. Gopakumar von der Organisation Third World Network.

Dürfen Menschen in Entwicklungsländern mit weniger gut geprüften Arzneien abgespeist werden?

Weil die großen klinischen Vergleichsstudien so teuer sind, kosten Biosimilars bisher meist nur 20 bis 30 Prozent weniger als das Originalmedikament. Damit bleiben arme Menschen bei Krebsarzneien wie Trastuzumab in Ländern wie Indien bis heute außen vor. "Ich fühle mich manchmal schuldig, weil andere Frauen noch immer keinen Zugang zu der Therapie haben", sagt die Krebspatientin Chaitali Haldar. Bis heute gibt es Frauen in Indien, die ihr Haus, ihr Land verkaufen oder Kredite mit hohen Zinsen aufnehmen, um die Behandlung zu bezahlen. "Der Krebs nimmt ihnen alles weg", sagt Leena Menghaney von der Organisation Ärzte ohne Grenzen, die mit Menon-Sen die Kampagne begonnen hatte. Damit auch kleinere Pharmafirmen Biosimilars entwickeln können, müssten die hohen Hürden der WHO-Richtlinien sinken, erklärt die Juristin aus Neu-Delhi.

Doch ist es zulässig, die Ansprüche an Biosimilars zu senken? Dürfen Menschen in Entwicklungsländern mit weniger gut geprüften Arzneien abgespeist werden? Rund 7000 Kilometer von Neu-Delhi entfernt sitzt der Krebsmediziner Paul Cornes in seinem Arbeitszimmer in Bristol und ist sich seiner Sache sehr sicher: "Wir wollen keine niedrigeren Standards für arme Menschen." Zumal ihm die Sicherheit dieser Produkte Sorgen bereite, sagt Cornes, der sich auch innerhalb einer Arbeitsgruppe der European School of Oncology mit dem Zugang zu innovativen Krebstherapien beschäftigt.

Biologische Arzneien wie Antikörper kommen nämlich natürlicherweise in verschiedenen Variationen vor. So haftet zum Beispiel mal die eine, mal die andere winzige Zuckerkette an den Wirkstoffen. Und damit das Originalmedikament und das Biosimilar gleich wirken und gleiche Nebenwirkungen haben, sollten sie etwa ähnliche Zuckerketten vorweisen. Das prüfen Pharmafirmen nicht nur in Labortests, sondern auch in den klinischen Vergleichsstudien. Bislang. "Doch die Methoden zur Proteinanalyse haben sich dramatisch verbessert. Es ist unwahrscheinlich, dass wir Unterschiede zwischen Originalmedikament und Biosimilar übersehen, die für den Patienten relevant sein könnten", sagt der Pharmazeut Schellekens aus Utrecht.

So ergab zum Beispiel eine industrienahe Studie aus dem Frühjahr 2020, dass in 95 Prozent aller in der EU und den USA zugelassenen Biosimilars die klinischen Vergleichsstudien keine Informationen lieferten, die über die Ergebnisse von Labortests und kleinen klinischen Tests hinausgingen. "Wir würden also ohne klinische Wirksamkeitsstudien nicht die Ansprüche senken, sondern etwas abschaffen, das für die Bewertung ohnehin keine Bedeutung hat", sagt Julie Maréchal, Leiterin der Abteilung für Biosimilar Policy & Science bei der Organisation Medicines for Europe, die die Interessen der Biosimilar -und Generikaindustrie in Europa vertritt. Auch die britische Zulassungsbehörde MHRA kam im Herbst 2020 in einer Analyse zu diesem Schluss, im Mai 2021 legte sie neue Regularien vor, die künftig weitgehend auf klinische Wirksamkeitsstudien verzichten.

Ähnlich sieht es der Entwurf der neuen WHO-Richtlinien vor. Viel öfter als bisher soll von Fall zu Fall entschieden werden, welche Tests tatsächlich nötig sind. "Wir verstehen heute besser, was für die Entwicklung von Biosimilars wichtig ist", sagt Knezevic von der WHO. Im Herbst werden die Experten den Entwurf nochmals diskutieren, im Frühjahr 2022 dann veröffentlichen. Und so dazu beitragen, dass sich mehr Menschen wie Chaitali Haldar moderne Krebstherapien leisten können.

Mitarbeit: Swagata Yadavar

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