Sachsen-Anhalt:Das nächste Experiment in Magdeburg

Koalitionsgespräche starten

Diese drei wollen nun gemeinsam regieren: Lydia Hüskens von der FDP, Andreas Schmidt von der SPD und vor ihnen Sven Schulze von der CDU.

(Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/picture alliance/dpa/dpa-Zentral)

CDU, SPD und FDP sind sich einig über ihre neue Koalition. Im Rest der Republik würde sie vermutlich alsbald scheitern.

Kommentar von Jan Heidtmann

Nach mehr als drei Wochen teils zähen Verhandlungen "steht" nun der Vertrag für ein Regierungsbündnis in Sachsen-Anhalt, wie es ein Gesprächspartner in Magdeburg formuliert. Das ist recht euphemistisch ausgedrückt, denn das Bündnis, das dieser Koalitionsvertrag begründet, ist eine ziemlich wackelige Angelegenheit. Nicht nur, dass darin die erste sogenannte Deutschlandkoalition aus CDU, SPD und FDP in der Bundesrepublik seit mehr als 60 Jahren vereinbart wird. Es ist auch ein numerisch überflüssiger Pakt, im Landtag hätten schon CDU und SPD zusammengenommen eine Mehrheit von einer Stimme.

Hauptgrund für dieses Bündnis ist die Angst der CDU Sachsen-Anhalts vor sich selbst. Das klingt kurios, da die Christdemokraten überraschend deutlich als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgegangen sind. Doch unter ihren Abgeordneten gibt es einige, die nichts gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD hätten. Die Mehrheit von nur einer Stimme erschien der CDU-Führung da zu prekär. Zumal ihr die FDP, die es bei der Wahl im Juni nach zehn Jahren wieder knapp in den Landtag geschafft hat, kulturell wesentlich nähersteht als die Sozialdemokraten.

Erinnert sich noch jemand an Reinhard Höppner?

Es ist also ein mindestens bemerkenswertes Bündnis, das da geschlossen wurde; im Rest der Republik würde es vermutlich alsbald scheitern. In Sachsen-Anhalt muss das nicht sein. Die einst für sich als "Land der Frühaufsteher" werbende Gegend war politisch regelmäßig für eine Überraschung gut. Das zeigt sich schon darin, dass vor der Wahl acht unterschiedliche Regierungskonstellationen denkbar erschienen - von einer AfD-CDU-Koalition bis zur Neuauflage des "Magdeburger Modells".

Mit dieser Tolerierung einer Koalition aus SPD und Grünen durch die damals noch PDS genannte Linke begann 1994 die Experimentierreihe "Landesregierung in Sachsen-Anhalt". Ministerpräsident war damals der Sozialdemokrat Reinhard Höppner, der sein Bündnis gegen massive Anfeindungen der Konservativen und gegen Kritik aus den eigenen Reihen durchsetzte. Höppner machte damit spätere Koalitionen von SPD und Linken erst möglich, zum Beispiel in Bremen oder Berlin.

Flexibel und nervenstark ist der jetzige Regierungschef auch

Immer wieder wurde in Sachsen-Anhalt etwas vorweggenommen, das später auch den Rest der Republik beschäftigte. 1998 schaffte es die rechtsextreme DVU mit 13 Prozent der Stimmen in den Landtag, und auch das Kenia-Bündnis aus CDU, SPD und Grünen der vergangenen fünf Jahre war das erste in Deutschland. In Pragmatismus, Flexibilität und Nervenstärke stand Ministerpräsident Reiner Haseloff von der CDU seinem Vor-Vorgänger Höppner von der SPD dabei um nichts nach. Dass der Streit um den Rundfunkbeitrag im vergangenen Dezember doch nicht zum Bruch der Koalition führte, ist da nur ein Beleg.

Fast lustig wirkte da der Wahlkampf-Slogan von Ministerpräsident Haseloff im Frühjahr: "Jetzt ist nicht die Zeit für politische Experimente." Sachsen-Anhalt wurde seit der Wiedervereinigung regelmäßig mit einer Art Notregierung geführt, zum Ausnahmezustand kam es trotzdem nie. Wenn also das jüngste Experiment einer Deutschlandkoalition irgendwo gelingen kann, dann wohl am ehesten in Sachsen-Anhalt. Und statt sich über die Politik in der Provinz zu echauffieren, wäre es besser, genau hinzuschauen, wie man so etwas hinbekommt. In ganz Deutschland hat die Zeit der Experimente erst begonnen.

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