Eröffnung des Europäischen Zentrums jüdischer Gelehrsamkeit:"Das Haus sei weit geöffnet"

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Die helle, strenge Synagoge distanziert sich sichtbar vom Orientalismus des 19. Jahrhunderts. Ihre raffinierte Lichtregie knüpft eher an die Lichtmetaphorik der Aufklärung an. (Foto: Tobias Hopfgarten)

Bisher mussten Deutsche, die Rabbiner werden wollten, ins Ausland gehen. Nun hat in Potsdam das Europäische Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit eröffnet. Mit einer großen Geste.

Von Lothar Müller

Alles begann damit, dass zwei Tora-Rollen in eine Synagoge gebracht wurden. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, und Sonja Guentner, die Vorsitzende der "European Union for Progressive Judaism", legten die Auszüge aus der hebräischen Bibel in dem Gotteshaus auf dem Campus der Universität Potsdam Am Neuen Palais im Park Sanssouci ab. So startete die Eröffnung des Europäischen Zentrums jüdischer Gelehrsamkeit in Berlin am Mittwoch, mit einer kleinen Handlung, die zugleich eine große Zäsur ist.

Denn erst mit der Ankunft der Rollen im leeren Tora-Schrein wurde das Gebäude zur Synagoge im vollen Wortsinn, dem ersten jüdischen Gotteshaus in Potsdam seit 1945. Zugleich ist dies die erste Hochschulsynagoge in Deutschland. Und das Herzstück des neuen Zentrums, zu dem die School of Jewish Theology an der Universität Potsdam gehört sowie die Rabbinerseminare Abraham-Geiger-Kolleg und Zacharias Frankel College. Eingeschrieben sind derzeit rund 80 Studierende; von ihnen streben 31 ein Rabbinat oder ein Kantorat an.

Die Synagoge zeigt, wofür die Formel "Jüdische Gelehrsamkeit" hier steht: nicht das gelehrte Wissen überhaupt. Gelehrsamkeit bezieht sich allein auf das Judentum als Glaubensgemeinschaft, auf die Tradition der ständigen Erneuerung des jüdischen Glaubens in der Lektüre, Interpretation, Kommentierung und Diskussion der Tora und des sie umgebenden Schrifttums. Das Geiger-Kolleg existiert seit 1999, das Frankel College und das Institut für Jüdische Theologie seit 2013. Der Abschluss ihrer Aufbauphasen, ihre Zusammenführung an einem Ort fällt nun genau in ein Jubiläumsjahr mit dem Titel "1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland".

"Wir brauchen eine starke öffentliche Sichtbarkeit des Judentums in Deutschland auch auf den Ebenen akademischer Theologie"

Beim Festakt zur Eröffnung beschwor der Ministerpräsident des Landes, Dietmar Woidke, den "Geist der Toleranz und Offenheit". Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich als Repräsentant der Nation besorgt über anhaltenden Hass gegen Juden in Deutschland. "Es schmerzt mich und macht mich zornig, dass sich Antisemitismus, antisemitischer Hass und Hetze in Deutschland, ausgerechnet in Deutschland, wieder offen zeigen, und das schon seit Jahren", sagte Steinmeier. Auch noch nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Jahr 2019 würden Jüdinnen und Juden verhöhnt, herabgewürdigt und gewaltsam angegriffen. "Schlimmer noch, in der Corona-Pandemie feiern krude antisemitische Verschwörungstheorien neue hässliche Urständ. (...) Das ist unerträglich!" Dennoch begrüßt er das Zentrum mit einem Zitat aus dem Talmud: "Das Haus sei weit geöffnet."

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, bemerkte in seinem Grußwort: "Wir brauchen eine starke öffentliche Sichtbarkeit des Judentums in Deutschland auch auf den Ebenen akademischer Theologie." Zentralratspräsident Schuster nannte das neue Zentrum ein "Zeichen unseres Glaubens an die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland" - und das in Zeiten antisemitischer Ausschreitungen.

Bisher mussten Deutsche, die Rabbiner werden wollten, ins Ausland gehen. Ausbildungsstätten in Europa gibt es nur in Budapest und London, auch auf dem amerikanischen Kontinent sind sie nicht sehr zahlreich. Entsprechend weltläufig ist das Publikum auf dem Campus. Unterrichtssprachen sind Deutsch, Englisch und Hebräisch, auf den Fluren wird viel Russisch und Spanisch gesprochen. Die Ausbildungszeit beträgt etwa fünf Jahre, zu denen ein zehnmonatiger Aufenthalt in Israel gehört. Der Abschluss ist weltweit anerkannt.

Treibende Kraft im fast zwei Jahrzehnte dauernden Entstehungsprozess des Zentrums waren der Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs, Walter Homolka, mit seiner Kanzlerin Anne-Margarete Brenker. Die Wurzeln der Potsdamer Jüdischen Theologie und der Rabbinerseminare reichen ins 19. Jahrhundert zurück. 1836 forderte Abraham Geiger die Gleichstellung der Rabbinerausbildung mit der Ausbildung katholischer Priester und evangelischer Pastoren an deutschen Universitäten als Konsequenz der jüdischen Emanzipation.

Das Berliner Büro "Rüthnick Architekten" hat die Umbauten der Gebäude für das "Europäische Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit" mit großem Gespür für die historische Substanz vorgenommen. (Foto: N/A)

Die "Hochschule für die Wissenschaft des Judentums", die Geiger 1872 wenige Jahre vor seinem Tod gründete, war aber keine staatliche Hochschule, so wenig wie das "Jüdisch-Theologische Seminar" in Breslau, das Zacharias Frankel 1854 gründete und das 1938 aufgelöst wurde. Erst das Institut für Jüdische Theologie in Potsdam erfüllt jetzt die alte Forderung Geigers, in die angegliederten Rabbinerseminare geht das Erbe der von Geiger und Frankel gegründeten Institutionen ein.

Durch seinen Standort in Potsdam ist das Zentrum zudem Teil der preußischen Geschichte des 18. Jahrhunderts. Die kleine Synagoge ist aus der Umgestaltung des Gebäude-Ensembles hervorgegangen, das 1769 nach Plänen von Carl von Gontard für den Kastellan, den Schlossverwalter des Neuen Palais und den Hofgärtner errichtet wurde, einschließlich einer Orangerie.

Das Berliner Büro "Rüthnick Architekten" hat die Umbauten mit großem Gespür für die historische Substanz vorgenommen. Das hat 13,5 Millionen Euro gekostet, Bauherr war das Land Brandenburg. Das nach dem aus Augsburg stammenden amerikanischen Reformrabbiner Walter Jacob benannte Gebäude, in dem Geiger- und Frankel-Kolleg untergebracht sind, ist in seinem Altrosa und mit seiner von Säulen gegliederten Loggia zum Park hin sofort als Pendant des Gebäudes zu erkennen, in dem sich auf der anderen Seite des Neuen Palais das Besucherzentrum befindet.

Mit seiner Pfosten-Riegel-Glasfassade wirkt die umgebaute Orangerie, in der die Jüdische Theologie in zwei Geschossen mit ihren Büro- und Seminarräumen residiert, wie ein moderner Kontrapost. Die Neugestaltung bezieht sich auf die Geschichte der Umbauten der historischen Orangerie, die von DDR-Behörden während der Fünfzigerjahre in eine Turnhalle verwandelt wurde. Nun hat das Berliner Architektenbüro ein "Haus im Haus" entwickelt, dem man den Charakter eines Hallenbaus ansieht und das historische Bodenbeläge verwendet, dessen Inneres aber zugleich sehr modern, gegenwärtig, funktional und säkular wirkt.

Für das Gegengewicht sorgt hier die "Kunst am Bau". Die Fassadengestaltung von Eva Leitolf trägt ihren Titel "This is not a Thornbusch" insofern zu Recht, als das Motiv des brennenden Dornbusches in monochrome Farbquadrate zerlegt und als Bild nicht unmittelbar erkennbar ist. Der Titel mit seinem Verweis auf eine Wüstenpflanze zeichnet zudem ein Gegenbild zur Welt der preußischen Orangerie. Und vor allem passt der Dornbusch, aus dem heraus nach der biblischen Erzählung Gott Moses nicht nur den Auftrag gibt, das jüdische Volk aus Ägypten zu führen, sondern auch seinen Namen kundtut, gut an die Fassade eines Sitzes der Jüdischen Theologie.

Nichts liegt dem Entwurf ferner als der Orientalismus im Synagogenbau des 19. Jahrhunderts

Zu der kleinen Synagoge hat die koreanische Künstlerin SEO die Wand-Installation "Die Wolken können träumen" beigesteuert, ein Spiel mit aus Aluminium gefertigten, schwebenden Formen, die aus Bäumen, Wolken und Wasser abstrahiert sind. Nichts liegt dieser hellen, strengen Synagoge und ihrer Lichtregie, die das Tora-Pult und sein ewiges Licht einschließt, ferner als der Orientalismus im Synagogenbau des 19.Jahrhunderts. Eher bezieht sie sich auf die Lichtmetaphorik der Aufklärung.

Zur Eingliederung der Jüdischen Theologie in die Universität Potsdam hat nicht nur die alte Forderung Geigers von 1836 geführt, sondern die im Wissenschaftsrat der Bundesrepublik 2010 getroffene Entscheidung, auch nichtchristliche Theologien im staatlichen Hochschulsystem zu verankern. Es ging damals nicht mehr nur um die Konstellation des 19. Jahrhunderts, das Verhältnis - und die Spannung - von jüdischer und christlicher Theologie. Ausgangspunkt war die Initiative für eine akademische Imam-Ausbildung an deutschen Universitäten der damaligen Bildungsministerin Annette Schavan. Sie ist bis heute ein Konfliktfeld. In den "interreligiösen Dialog" in ihrem Bundesland bettete Manja Schüle, Brandenburgs Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur das "Europäische Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit" ein.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich während der Eröffnung besorgt über Antisemitismus und antisemitische Verschwörungstheorien in der Bundesrepublik: "Das ist unerträglich!" (Foto: Soeren Stache/dpa)

Es tritt an die Seite des 1992 gegründeten Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien, das ebenfalls an die Potsdamer Universität angegliedert ist, und des 2012 gegründeten Selma-Stern-Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Hier ist die säkulare Gelehrsamkeit vorherrschend, das breite Spektrum von Referenten über die Konfessionsgrenzen hinaus. "Jüdische Theologie", heißt es auf der Website des Instituts, "ist konfessionell gebunden, wird von jüdischen Hochschullehrern unterrichtet mit dem Berufsziel des geistlichen Amtes: Rabbiner (-in)/Kantor (-in). Deshalb ist bei der Jüdischen Theologie auch die Mitwirkung der Religionsgemeinschaft erforderlich." Damit schließt sich der Kreis zur Synagoge im Zentrum des Gebäudeensembles.

Zu ihr gehört der "Minjan", der die Anwesenheit von mindestens zehn Juden für einen vollgültigen jüdischen Gottesdienst verlangt. Sie müssen nicht aus den Seminaren, sie können auch aus der Stadt Potsdam kommen. Das Europäische Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit strahlt den Glanz einer Schmuckschatulle aus. Sich mit diesem Glanz bescheiden kann es nicht.

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