Boccia bei den Paralympics:Premiere für den Pionier

Boccia bei den Paralympics: Alle Teilnehmer beim Para-Boccia - im Bild der Brasilianer Maciel Santos - sitzen im Rollstuhl, manche im Elektrorollstuhl. Manche bringen den Ball mit den Händen ins Spiel, andere mit den Füßen, manche über Rampen.

Alle Teilnehmer beim Para-Boccia - im Bild der Brasilianer Maciel Santos - sitzen im Rollstuhl, manche im Elektrorollstuhl. Manche bringen den Ball mit den Händen ins Spiel, andere mit den Füßen, manche über Rampen.

(Foto: BEHROUZ MEHRI/AFP)

Boris Nicolai aus St. Ingbert ist der erste deutsche Paralympics-Starter im Boccia. Seine Teilnahme ist ein Zeichen dafür, dass Menschen mit schwersten Behinderungen Sport treiben können.

Von Thomas Hahn, Tokio

Die erste Wettkampferöffnung eines deutschen Bocciaspielers in der Geschichte der paralympischen Spiele war nicht gerade ein Meisterwerk, das hat Boris Nicolai später selbst einräumen müssen. "Der Nachwurf war nicht gut", sagte er, "und das ist so ein Schlüssel. Wenn der Nachwurf gut wird, läuft das Spiel ganz anders." Er hatte den Anwurf zugelost bekommen in seinem Auftaktspiel gegen die Slowakin Michaela Balcova im Ariake Gymnastics Center bei den Paralympics von Tokio.

Das heißt, er durfte den Jack ins Spiel bringen, den weißen Ball, dem die Spieler mit ihren roten oder blauen Bällen möglichst nahekommen müssen. Und er durfte als Erster an den Jack heranwerfen, aber dieser Nachwurf blieb eben zu früh liegen. Michaela Balcova, die Pairs-Paralympicssiegerin von 2016, konnte problemlos kontern. Im ersten End hielt Nicolai noch ein 1:1, danach zog die Kollegin davon. Endstand 1:6. Nicolai stellte fest: "Ich habe nicht das gespielt, was ich kann."

Premieren auf großer Bühne laufen oft anders als gewünscht. Die Nervosität ist größer, die Atmosphäre ungewohnt. Dazu kam, dass Boris Nicolai, 36, aus St. Ingbert im Saarland das historische Spiel wegen der Coronavirus-Pandemie nach langer Wettkampfpause bestreiten musste. Und überhaupt markierte dieser Wettkampf ja nicht einfach nur irgendein erstes Mal. Nicolais Auftritt war das Lebenszeichen einer Gruppe, die der deutsche Sport lange nicht richtig beachtet hat.

Para-Boccia ist grob gesagt das Spiel für Sportlerinnen und Sportler mit schweren Bewegungsstörungen durch frühkindliche Hirnschädigungen oder Gendefekte. Alle sitzen beim Wettkampf im Rollstuhl, teilweise im Elektrorollstuhl. Die Boccia-Spieler der Sportklasse BC3 bewegen ihre Bälle über Rampen, die Assistenten nach ihren Anweisungen aufbauen. Seit 1984 ist der Sport paralympisch. Nie war jemand aus Deutschland dabei. Aber jetzt bewegt sich etwas. Boris Nicolai steht für einen neuen Pioniergeist.

Er spielt in der Klasse BC4. Er hat Muskeldystrophie. Wegen der Erbkrankheit schwinden nach und nach seine Muskeln. Früher hat er Tennis gespielt. Als das nicht mehr ging, entdeckte er Boccia. 2015 war das, auf Teneriffa. "Ich war in einem speziellen Hotel für Menschen mit Behinderung, da wurde das als Freizeitbeschäftigung angeboten." Er mochte das Spiel. Zu Hause suchte er einen Verein und fand den BRS Gersweiler mit dem Vorsitzenden Edmund Minas, einem ausgewiesenen Boccia-Förderer.

12 000 Euro investierte Nicolai zu Beginn in seinen Sport - pro Jahr

Seither ist viel passiert. Boris Nicolai, von Beruf Maschinenbautechniker, im Ehrenamt Behinderten-Beauftragter der Stadt St. Ingbert, macht die Dinge, die er anpackt, gerne richtig. Deshalb entwickelte er bald einen zeitaufwendigen und durchaus kostspieligen Ehrgeiz in seinem neuen Hobby. 12 000 Euro habe er anfangs pro Jahr in Training und Wettkampfreisen investiert, sagt er. Ein angehender Boccia-Champion zahlt ja nie nur für sich selbst, sondern auch für sein Gerät und seine Assistenten.

Aber Boris Nikolai zeigte nicht nur Engagement. Er zeigte auch Talent. Es schien sich zu lohnen, ein Team mit ihm aufzubauen. Edmund Minas bot sich als Boccia-Cheftrainer im Deutschen Rollstuhlsport-Verband (DRS) an, und weil es noch keinen gab, bekam er den Posten. 2018 wurde Boris Nicolai in Liverpool WM-Dritter, 2019 in Sevilla EM-Zweiter. Er qualifizierte sich für die Paralympics. In der Weltrangliste, die der Verband World Boccia im März 2020 wegen Corona einfror, kletterte er auf Platz zwei. Und jetzt setzt Nicolai also auf der großen Bühne Zeichen.

"Wir müssen den Menschen zeigen, dass man auch mit sehr starker Behinderung Sport machen kann", sagt Kristof Heller, 31, Nicolais Begleiter in Tokio. Er ist eigentlich Physiotherapeut am Olympiastützpunkt Stuttgart, aber mittlerweile auch Boccia-Cheftrainer im DRS als Nachfolger von Minas, dessen Co-Trainer er erst war. Edmund Minas starb im Dezember 2019 unerwartet. Er war 67 Jahre alt.

Das war ein Schlag für die gesamte saarländische Parasport-Szene und besonders für das junge deutsche Boccia-Nationalteam, das er aufgebaut hatte. "Das hat alles über den Haufen geworfen", sagt Heller. Jetzt versucht er in Minas' Sinne den Aufbau voranzutreiben, Trainerstrukturen zu etablieren, Nachwuchsarbeit anzukurbeln, dem Sport eine Zukunft zu geben. "Wir wollen kein One-Hit-Wonder bleiben."

Boccia bei den Paralympics: Nummer eins in Deutschland, die Nummer zwei in der Weltrangliste: Boris Nicolai, 36, vom BRS Gersweiler, im Ehrenamt Behinderten-Beauftragter der Stadt St. Ingbert.

Nummer eins in Deutschland, die Nummer zwei in der Weltrangliste: Boris Nicolai, 36, vom BRS Gersweiler, im Ehrenamt Behinderten-Beauftragter der Stadt St. Ingbert.

(Foto: Ralf Kuckuck/DBS / oh)

Boris Nicolai ist die Stütze des Vorhabens. "Er ist ein zielstrebiger Mensch", sagt Kristof Heller. Er tut, was er kann, um besser zu werden. Vor der Tokio-Reise hat Boris Nikolai in Völklingen trainiert, "weil die da einen ähnlichen Boden liegen haben wie hier", wie er sagt. Ansonsten trainiert er im Olympiastützpunkt Saarbrücken. "Man ist da sehr gut betreut, was Physiotherapie angeht, Hallenkapazitäten, Sportpsychologie."

Er lässt nichts aus. Wer schlampt, kann kein guter Boccia-Spieler werden. Und die Niederlage vom Auftakt hat Boris Nicolai auch nicht auf sich sitzen lassen. Am Sonntag hatte er sein zweites Gruppenspiel. Leidy Chica Chica aus Kolumbien bekam seinen Drang zur Wiedergutmachung zu spüren. Boris Nicolai gewann 7:1.

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