Jenny Erpenbeck: "Kairos":Ost-West-Beziehung

Jenny Erpenbeck in Berlin, 2019

Jenny Erpenbeck stammt, wie die Hauptfigur Katharina, aus einer kulturbegeisterten Familie in Ostberlin, sie kennt die Kunstszene der DDR also sehr gut.

(Foto: Stefanie Preuin)

Jenny Erpenbeck erzählt in "Kairos" von einer Amour fou in der DDR.

Von Helmut Böttiger

Es gab in der DDR eine Bohème, die mit westlichen Maßstäben nicht zu messen war. Im neuen Roman von Jenny Erpenbeck tauchen wie Codewörter Namen von Ostberliner Etablissements auf, die denselben Charakter annehmen wie die berühmten Pariser Cafés am Montparnasse - die "Offenbachstuben" beispielsweise, das "Ermelerhaus" oder natürlich das "Weinrestaurant Ganymed" am Schiffbauerdamm, dessen Nasi-Goreng-Variante landesweit ausstrahlte und in dessen "Berner Butterbouillon" ein Wachtelei schwamm. Darauf macht Hans, der um 34 Jahre ältere Schriftsteller, seine 19-jährige frisch eroberte Geliebte Katharina gleich aufmerksam: Es ist ein Teil ihres Glücks.

Erpenbecks Roman "Kairos" ist ein Liebesroman und ein Roman über die späte DDR, und beide Stränge sind viel enger miteinander verbunden, als man am Anfang ahnt. Langsam entsteht ein dichter Gefühlsknäuel, und auch am Schluss bleibt davon noch ein unauflösbarer Rest. "Kairos" umkreist etwas, was man im Westen nach 1989 allmählich zu ahnen begann und das dabei immer fremder und unverständlicher wurde: dass in der Ostberliner Kulturszene eine eigene Atmosphäre und Mentalität entstanden war, die den bundesdeutschen Selbstverständlichkeiten zuwiderlief.

In der Ostberliner Kulturszene entstand eine ganze eigene Atmosphäre und Mentalität

Hans W., der rätselhafte Protagonist des Romans, ist einer jener widersprüchlichen, komplexen Charaktere, die die Kritik an den versteinerten Verhältnissen der DDR mit dem Festhalten an sozialistischen Vorstellungen verbinden. Den Privilegien, die ein nicht komplett dissidentischer Schriftsteller hat - festes Einkommen, garantierte Aufträge, die große gesellschaftliche Bedeutung von Literatur - stehen Zweifel, Desillusionierung und eher richtungslose private Suchbewegungen gegenüber. Seine Begegnung mit der jungen Katharina wird von Jenny Erpenbeck mit dramaturgisch raffiniert eingesetzten Mitteln als coup de foudre geschildert, ihre Beziehung als eine DDR-spezifische Amour fou. Der Marx-Engels-Platz, der 57er-Bus, der plötzlich einsetzende Regen und die S-Bahn-Brücke am Alex - die Stationen ihrer ersten Begegnung entwickeln einen eigenen Sog und werden leitmotivisch beschworen.

Diese Liebe steht unter besonderen Gesetzen. Es ist die Anziehung zwischen einem, der in den Fünfzigerjahren wegen seiner Überzeugungen bewusst aus dem Westen in die DDR gegangen ist, und einer Nachgeborenen, die das Leben in der DDR als selbstverständlich ansieht und deshalb nicht mehr in derselben Weise um den Sozialismus kämpft. Aber sie verkörpert so etwas wie die Hoffnung auf die Zukunft. Katharina ist mit den Idealen der frühen DDR-Kultur aufgewachsen, ihr Vater ist ein führender Kopf an der Akademie der Wissenschaften, und das Theater Brechts oder die Musik Hanns Eislers werden ihre Orientierungspunkte. In der hoch aufgeladenen ersten Liebesszene zwischen den Hauptfiguren am Abend nach jener Begegnung spielt das alles eine große Rolle, und im Assoziationsstrom Katharinas fällt mitten in die ersten Küsse hinein der berühmte Brecht-Satz: "Nimm doch die Pfeife aus dem Maul, du Hund". Es sind ganz eigene kulturelle Chiffren, die hier zitiert werden, und das Ineinander von Verführung und Sex mit den Klängen von Mozarts "Requiem" vom Plattenspieler ist ein spezielles Exerzitium: Tod und Liebe, als die klassischen Ingredienzen der antiken Tragödie, werden aufeinander bezogen und bilden das beständige Hintergrundrauschen dieses Romans.

Jenny Erpenbeck: "Kairos": Jenny Erpenbeck: Kairos. Roman. Penguin-Verlag, München 2021. 379 Seiten, 22 Euro.

Jenny Erpenbeck: Kairos. Roman. Penguin-Verlag, München 2021. 379 Seiten, 22 Euro.

Qual und Lust, durch die Geschichtsmaschine gedreht wie durch einen Fleischwolf: die vielen Verweise auf Heiner Müller sind in "Kairos" nicht zu übersehen. Hans, der Schriftsteller, hat Züge einer Heiner-Müller-Figur. Er sagt Sätze, die DDR-Dramatiker wie maßgeschneidert sind: "Das Gefühl abtrennen von sich und unters Mikroskop legen, darin bestand in Wahrheit die Kunst in diesem verfluchten zwanzigsten Jahrhundert." Und Katharina resümiert nach einem Gespräch mit ihm, dass der Tod in Deutschland nicht das Ende, "sondern der Anfang von allem" sei.

Die Liebe zwischen der jungen Kostüm- und Bühnenbildnerin Katharina und diesem lustvoll inszenierten Heiner-Müller-Imago spiegelt auf vertrackte Weise die Endzeitstimmung in den letzten Jahren der DDR wider. Sie ist eine utopische Entgrenzung, aber gleichzeitig durchtränkt vom Wissen um die Vergeblichkeit. Die sadomasochistischen Sex-Techniken, in die Hans Katharina einführt, wirken wie eine augenzwinkernde Bebilderung des Müller-Theaters: die Zurschaustellung des Körperlichen und der Triebe sowie die Ablehnung jeglicher Moral. Natürlich ist Hans W. eine suggestiv ausgedachte Kunstfigur und wird mit anderen biografischen Daten versehen als Heiner Müller, aber das gehört zum Spiel. Genauso, dass Heiner Müller selbst ein paar Mal am Rande des Romans auftaucht und beispielsweise der Pianist im "Ganymed" ihm ähnlich sieht - das wirkt wie der Matrjoschka-Effekt, in dem sich die Puppen in der Puppe verstecken.

Es ist kein Schlüsselroman, sondern die radikale Selbstvergewisserung der Autorin

Jenny Erpenbeck stattet ihre Heldin Katharina außerdem mit erkennbaren autobiografischen Zügen, etwa das Alter und die konkrete theaterpraktische Tätigkeit in Frankfurt an der Oder aus und legt dadurch gewisse Fährten, die sie dann wieder verwischt. "Kairos" ist keineswegs ein Schlüsselroman, sondern in erster Linie eine radikale Selbstvergewisserung der Autorin. Sie versucht, Zeugnis darüber abzulegen, wie sie die DDR erfahren hat und weshalb ihr die Bundesrepublik immer noch fremd erscheint - verallgemeinern lassen sich diese Gefühle jedoch nicht.

Jenny Erpenbeck stammt aus einer privilegierten Familie der DDR-Kultur. Ihre Großeltern waren Fritz Erpenbeck, der unter anderem als Leiter der Hauptabteilung Darstellende Kunst und Musik beim Ministerrat der DDR amtierte, sowie die als Schriftstellerin bekannte Hedda Zinner. Ihr Vater John Erpenbeck ist einer der namhaftesten Physiker und Wissenschaftler aus der DDR, und von ihm stammen offenkundig auch die Informationen über die Abwicklung der Akademie der Wissenschaften, die im Roman seiner Tochter eine große Rolle spielen und einen wehmütigen Abgesang auf die DDR instrumentieren. In alldem ist "Kairos" eine aufschlussreiche Milieustudie: Es geht hier um die Innensicht der etablierten Kulturszene der DDR, die sich innerhalb des Systems bewegte und von den Repressionen, etwa nach der Biermann-Ausbürgerung, höchstens atmosphärisch etwas zu spüren bekam.

Sehr bezeichnend ist eine Moskaureise, die Katharina und Hans noch in der Gorbatschow-Ära unternehmen und die ein letzter, geglückter Moment ihrer Beziehung ist. Von den gesellschaftlichen Verwerfungen ist hier nirgendwo die Rede, stattdessen wird das sowjetisch-lebenspralle Moskau in glühenden Liebesfarben geschildert, wie man es sonst allenfalls bei amerikanischen Literaten über Paris findet. Realistisch ist in "Kairos" weder das Moskau-Bild noch die Darstellung der DDR, und es ist in diesem Roman nirgends zu ahnen, dass es die DDR-Bürger selber waren, die bei ihren ersten freien Wahlen 1990 mit 48,1 Prozent die "Allianz für Deutschland" wählten, also Helmut Kohl und die Treuhandanstalt.

"Kairos" ist trotzdem ein aufregend komponiertes Buch einer ästhetisch hochreflektierten Romanautorin. In ihrem szenischen Denken, den Tempowechseln und glänzend rhythmisierten Textpassagen zeigt sich im Übrigen auch Jenny Erpenbecks Affinität zur Musik und zur dramatischen Oper. Dass sie 1993 Heiner Müllers Assistentin bei seiner "Tristan und Isolde"-Inszenierung in Bayreuth war, erscheint nach diesem Roman umso schlüssiger.

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