Kunstfest Weimar 2021:Grüß Goethe!

Kunstfest 2021 in Weimar

Szene aus "The love behind my eyes" von und mit dem libanesischen Choreografen und Tänzer Ali Chahrour. Das Stück hatte beim Kunstfest Weimar seine europäische Erstaufführung.

(Foto: Candy Welz)

Das Kunstfest Weimar sucht in Thüringen nach der "ganzen Wahrheit". Dazu gehören Buchenwald und der NSU - aber auch das Faustische, die Musik und die Liebe.

Von Christine Dössel

Wer der größere von beiden ist, Friedrich Schiller oder Johann Wolfgang von Goethe, ist überhaupt keine Frage. Jedenfalls nicht in Weimar, wo der allgegenwärtige Herr von Goethe der unübertroffene Local hero und Kassenmagnet ist. An und um Goethes Geburtstag herum, dem 28. August, kulminiert der Kult in besonders vielen Events, es gibt Kartoffeltorte und Goethe-Touren für alle, und die Stadt feiert ein mehrtägiges Weinfest, weil der große Dichter auch ein großer Trinker war (zwei bis drei Flaschen täglich). Auch das - auf zeitgenössische Kunst, nicht auf Klassik setzende - Weimarer Kunstfest zollt ihm den einen oder anderen Tribut. Etwa wenn der sehr lustige, sehr grandiose Klavierentertainer Chilly Gonzales, der aus Montreal stammt, seine Zuhörer im Deutschen Nationaltheater (DNT) mit "Grüß Goethe" begrüßt statt mit "Grüß Gott".

Auf dem berühmten Doppelstandbild vor dem DNT - gelegen zwischen dem Schillerkaufhaus auf der einen und dem Goethekaufhaus auf der anderen Seite - sind beide Dichtergenies gleich groß. Wie kann das sein, fragt der Schauspieler Steve Karier im oberen Foyer des Theaters, da in Wirklichkeit Goethe doch viel kleiner war, nämlich allerhöchstens 1,69, wohingegen Schiller mindestens 1,80 maß? Tja. Es sollte nun mal die Ebenbürtigkeit der beiden in ihrer Geistesgröße dargestellt werden, "unter Verzicht auf die Wahrheit", und schon ist Karier bei seinem Thema, den Legenden und Mythen, Fake News und Gerüchten aus und über Thüringen, oder an diesem speziellen Abend: über Weimar.

Kunstfest Weimar 2021: Der Schauspieler Steve Karier will sie wissen, "die ganze Wahrheit" über Thüringen, ob in Weimar, Kleinneundorf, Friedrichsrode oder, wie auf diesem Foto, im Kulturzentrum Trafo in Jena.

Der Schauspieler Steve Karier will sie wissen, "die ganze Wahrheit" über Thüringen, ob in Weimar, Kleinneundorf, Friedrichsrode oder, wie auf diesem Foto, im Kulturzentrum Trafo in Jena.

(Foto: Thomas Müller)

Die hat er vorab gesammelt, nachdem Bürgerinnen und Bürger dazu aufgerufen worden waren, Geschichten aus und zu ihrem jeweiligen Heimatort beizusteuern. Steve Karier, Schauspieler aus Luxemburg und exzellenter Rhetor, bestückt damit seine smarte Lecture-Performance "Thüringen - die ganze Wahrheit", mit der er während des Weimarer Kunstfests an 20 Abenden in 20 verschiedenen Orten Station macht, um mit den Menschen dort ins Gespräch über ihre jeweiligen (Lügen-)Geschichten zu kommen. Flankiert wird das partizipative Projekt von der ACC Galerie Weimar, in deren Auftrag lokale Künstler einzelne der eingesandten Sagen oder aktuellen Gerüchte ausgestaltet haben und in "Lügenräumen" ausstellen.

Protestaktion gegen die "Veganisierung": Die Thüringer Rostbratwurst muss erhalten bleiben!

Eine Geschichte hat besonders Furore gemacht und es als Aufreger sogar bis in den Spiegel gebracht: das vermeintliche Modellvorhaben "Vegan City Gera", das das Geraer Künstlerduo "Kurt Grünlich" als Fakt in die Welt setzte - nämlich indem es in den sozialen Medien und auf einem Flyer dagegen protestierte und eine Unterschriftenaktion lancierte gegen die "radikale Einschränkung der Bratwurststände im gesamten Stadtgebiet" durch die angebliche Einführung einer 50-Prozent-Quote für vegane Würste. Allein wie viele darauf hereingefallen sind und sich über die "Veganisierung" Geras empörten (die Thüringer Rostbratwurst müsse erhalten bleiben!), zeigt sehr schön die Mechanismen heutiger Fake-News-Produktion - ein Kollateralgewinn des Karier-Projekts, das grundsätzlich ohne erhobenen Zeigefinger und Querdenker-Bashing auskommt.

Zur "ganzen Wahrheit" von Weimar gehört auch Buchenwald. Wie nur wenige Kilometer entfernt vom Hort des Humanismus und der deutschen Klassik sich die schlimmste menschengemachte Hölle auftun konnte, bleibt als Schock und Schande für immer und schlägt sich auch im Programm des Kunstfests nieder. So waren für mehrere Veranstaltungen die Buchenwald-Überlebenden Éva Pusztai-Fahidi (aus Budapest) und Ivan Ivanji (aus Belgrad) zu Gast, beide Weimarer Ehrenbürger. Sie 96 Jahre alt, ein Inbegriff von damenhafter Eleganz, er vier Jahre jünger, ausgestattet mit einem offenbar unverwüstlichen Schalk, der aus seinen Augen wie aus seinen Worten blitzt; jüngst veröffentlichte er den Roman "Corona in Buchenwald". Bewegend, wie sich diese beiden Zeitzeugen im Gespräch mit dem Historiker Volkhard Knigge der Frage "Quo vadis Erinnerungskultur?" stellten. "Von wegen: nie wieder!", ätzte Ivanji mit Blick auf jüngere Kriegsdesaster und ertrunkene Kinder im Mittelmeer. Und Pusztai-Fahidi sagte, sie habe es als eine "persönliche Beleidigung" empfunden, als in Deutschland die AfD aufkam. Wie könne es sein, dass allenthalben der Geschichtsunterricht gekürzt werde und es oft nicht mal mehr Geld für Fahrten zu Gedenkstätten gibt?

Kunstfest 2021 in Weimar

Das Theater sitzt zu Gericht und stellt den NSU-Prozess nach - ein Reenactment von Nuran David Calis und Tunçay Kulaoğlu.

(Foto: Candy Welz)

Das Theater, diese moralische Anstalt, selber eine betriebsame Gedenkstätte, hilft auch da: In "438 Tage NSU-Prozess", dem zentralen, sich über die gesamte Dauer des Festivals ziehenden Projekt im Alten Funkhaus Weimar, betreiben der Regisseur Nuran David Calis und der für Konzept und Dramaturgie verantwortliche Tunçay Kulaoğlu politische Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit in einem. Sie nennen ihre 17-teilige Performance (sie geht noch bis zum 11. September) eine "theatrale Spurensuche", Calis spricht gar von einer "sozialästhetischen Plastik". Auf alle Fälle ist sie ein gerafftes dokumentarisch-performatives Reenactment des NSU-Prozesses am Oberlandesgericht München - und zwar nicht mit Blick auf das rechtsterroristische, aus dem thüringischen Jena stammende Tätertrio, sondern auf die zehn fast ausschließlich migrantischen Mordopfer. Von dem Strafverfahren gibt es weder Ton- noch Videoaufnahmen; die Textfassung basiert auf den Protokollen der SZ-Gerichtsreporterinnen.

Das Theater spielt Judikative nach und sitzt zu Gericht - kann das gutgehen? Es ist jedenfalls eine sehr nüchterne, sachliche, letztlich untheatrale Angelegenheit, mit aller Kälte auf die Ratio zielend, in die Lücken und offenen Fragen stoßend, die sich dabei auftun. Für die Zuschauer reine Zuhör-, Kopf- und Denkarbeit, sehr spröde, aber eben im Dienst einer wichtigen Sache, weshalb man die gelegentliche Sehnsucht nach mehr Theatralität sogleich wieder verdrängt. Einfühlung ist hier verboten - und auch kaum möglich, denn es wird in dem nachgebauten Gerichtssaal nicht gespielt, sondern gelesen, und bis auf wenige professionelle Schauspieler vom DNT (etwa Sebastian Kowski als Vorsitzender Richter Manfred Götzl) sind es Opferangehörige, ehemalige Prozessbeteiligte, Politiker, Aktivistinnen, Personen des öffentlichen Lebens, die als "Zeugen" daran teilnehmen und mehr oder weniger gut ihren Text vorlesen. Jeden Abend eine andere Besetzung.

Im Anschluss gibt es stets eine Diskussion, moderiert von der Soziologin Katharina Warda aus Berlin. Da wurde zum Beispiel am fünften Abend, nach der Verhandlung des Mordes an Süleyman Taşköprü, von der Bundestagsabgeordneten Filiz Polat (Bündnis 90/Die Grünen) und der deutsch-türkischen Anwältin Seyran Ateş aus Berlin die dubiose Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Prozess benannt. Von "Staatsversagen" war die Rede, und der thüringische Bildungsminister Helmut Holter (Linke) sagte, was das Theater - wie der Journalismus - leisten könne, sei, "aufzurütteln".

Ach, das Theater. Es ist zwar oft ein Gschaftlhuber, aber man muss es doch lieben für seine Eingriffe in alle Bereiche des Lebens, es bohrt in Wunden, klärt auf, mahnt, kämpft, integriert. Eigentlich die fünfte Gewalt im Staate. Wenn es denn nur auch diese Durchschlagskraft hätte. Das neueste Top-Thema auf seiner Agenda ist der Klimawandel, die Horrorspur des Anthropozäns, in Weimar vertreten durch Thomas Köcks neues Stück "Und alle Tiere rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr". Der österreichische Autor, Jahrgang 1986 (der schon mit "paradies fluten", "paradies hungern" und "paradies spielen" eine Klima-Trilogie vorgelegt hat), nennt es ein "vielstimmiges Requiem-Manifesto der ausgestorbenen Arten". Tiere kommen darin zu Wort. Solche, die ausgerottet wurden - meist durch den kolonialistisch tätigen Europäer -, und solche, die vielleicht noch kommen oder nie existiert haben werden. Weshalb das Futur II eine glanzvolle Rolle spielt und den Beat gibt für den "Sound of extinction" in Köcks sprachmächtig-bitterem Text.

Kunstfest 2021 in Weimar

Sarah Sophia Meyer als eine der Sprecherinnen in Thomas Köcks Anklagestück "Und alle Tiere rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr".

(Foto: Candy Welz)

Es ist eine Ode, eine Philippika, eine Bußpredigt wie für einen globalen Nockherberg. Köcks "Vanitas vanitatum". Uraufgeführt wurde es von Marie Bues als eindrucksvolle, hörfunktaugliche Sprechoper, szenisch aber mit an Bilderverweigerung grenzender Sparsamkeit. Grelle Scheinwerfer, vier Schauspieler mit Kopfhörern, gelegentlicher Schlagzeuglärm. Nach den langen Monaten des Lockdowns hätte man sich vom Theater schon mehr Fülle gewünscht. Eine Feier der Livehaftigkeit, wie sie Chilly Gonzales so freudvoll bei seinem Konzert beschwor, etwa mit dem Tastenhauer "Music is back".

"Bye Bye Bühne" sagt indes der Titel von Judith Rosmairs gemeinsam mit dem Filmkünstler Theo Eshetu entworfenem 360-Grad-Virtual-Reality-Projekt. Es ist noch im Lockdown entstanden und spielt im geschlossenen Renaissancetheater Berlin: vor, auf und hinter der Bühne. Rosmair, diese schöne Schauspiel-Circe, nimmt die VR-bebrillten Zuschauer nicht nur mit auf eine Reise durch die Räumlichkeiten des Theaters, sondern auch durch Szenen und Motive aus Goethes "Faust". Wobei sie virtuos zwischen drei Rollen switcht: Gretchen, Mephisto und forsche Putzkraft mit osteuropäischem Akzent. Wie sich dabei theatralische, virtuelle und wirkliche Realität vermischen, entwickelt einen ganz eigenen Augenblickszauber. Der bliebe freilich etwas schal, hängte Rosmair an die künstliche VR-Tour nicht ein leibhaftiges Nachspielsolo dran, in dem sie das Live-Erlebnis Theater feiert - und uns, ihr Publikum.

Weimar im Bundesland Thüringen; Theaterplatz, Deutsches Nationaltheater, Goethe - Schiller Denkmal Weimar *** Weimar in

Ständige Konkurrenz und Bezugspunkt: die Goethe- und Schillerstadt Weimar.

(Foto: Jürgen Ritter via www.imago-images.de/imago images/Jürgen Ritter)

"In Weimar funktioniert alles, wo Goethe draufsteht", sagt Rolf C. Hemke, der Leiter des Kunstfests. Zeitgenössische Kunst habe es dagegen schwer. Seit seinem Antritt 2019 hat der 49-jährige Kölner die Zahl der Veranstaltungen verdoppelt und auf ganz Thüringen ausgeweitet - mehr als 200 sind es heuer, überwiegend Ur- und Erstaufführungen. Darunter das betörend schöne, fantastisch ausgeleuchtete Tanzstück "The love behind my eyes" des jungen libanesischen Choreografen Ali Chahrour, der darin mit einem anderen Mann (Chadi Aoun) homoerotisches Begehren so körpersprachlich intensiv, lust- und schmerzvoll ausdrückt, dass einem der Atem stockt. Es ist das Lamento einer im Islam verbotenen, unerfüllten Liebe unter Rückgriff auf die Mystik und die persisch-arabische Lyrik, speziell: ein Liebesgedicht, das eine muslimische Frau (Leila Chahrour) mit kehligem Sprechgesang in das Dunkel hineinruft. Auch Goethe hat sich in seinem "West-östlichen Divan" mit dem Nahen und Mittleren Osten auseinandergesetzt. Es hätte ihm bestimmt gefallen.

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