Telemedizin:Arztbesuch per Video

Sie steuern das Projekt "Tanne": Stefan Lorenzl, Chefarzt der Neurologie und Facharzt für Neurologie und Palliativmedizin und Christiane Weck, Funktionsoberärztin und Fachärztin für Neurologie.

Sie steuern das Projekt "Tanne": Stefan Lorenzl, Chefarzt der Neurologie und Facharzt für Neurologie und Palliativmedizin und Christiane Weck, Funktionsoberärztin und Fachärztin für Neurologie.

Um Patienten mit neurologischen Krankheiten auch am Lebensende gut versorgen zu können, startet in Agatharied ein Pilotprojekt. Erste Erfolge gibt es bereits.

Von Gregor Grosse, Miesbach

An sich ist es ein schlichtes Büro, von dem aus ein medizinisches Großprojekt geplant und koordiniert wird. Ein Computer, ein Laptop und zwei Tablets - mehr braucht es nicht für eine Innovation in der neurologischen Palliativbetreuung. Das ist freilich stark untertrieben, wenn einem die Komplexität und die zukünftigen Möglichkeiten der Telemedizin bewusst werden.

Das Krankenhaus Agatharied im oberbayerischen Landkreis Miesbach hat gemeinsam mit verschiedenen Partnern ein deutschlandweit einzigartiges Projekt ins Leben gerufen. Das erklärte Ziel von Projekt "Tanne" ist die flächendeckende Versorgung von schwerkranken Menschen in Bayern. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), das wichtigste Organ der gemeinsame Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen, hat dafür eine Gesamtsumme von mehr als 2,1 Millionen Euro bereitgestellt. "Derzeit werden viele Patienten mit neurologischen Erkrankungen zu Hause oder im Pflegeheim versorgt, ohne dass fachspezifische Hilfe zur Verfügung steht". So schildert es Christiane Weck, Funktionsoberärztin und Mitinitiatorin des Projekts. Das soll sich nun ändern.

In Agatharied, Teil der 8000-Einwohner Gemeinde Hausham, soll ein Zentrum der Telemedizin entstehen. Dafür werden - so der Plan - aus ganz Bayern ambulante Palliativteams und Hospize an das neurologische Fachzentrum in Agatharied angeschlossen. Über das sogenannte Videokonsil, ein mobiles Videosystem, können Menschen mit schwerer neurologischer Erkrankung von den Fachärzten in Agatharied beraten werden - 24 Stunden am Tag. Dabei ist es egal, ob sich der Patient Zuhause oder in einem Hospiz befindet. "Das sind oftmals sehr immobile Menschen, die nicht einfach schnell ins Krankenhaus gebracht werden können", erklärt Neurologin Weck. Die Endphase neurologischer Erkrankungen ist häufig durch Unbeweglichkeit aufgrund von Spastik oder Lähmungen gekennzeichnet. Gerade in dünn besiedelten Gebieten in Bayern könne durch die Onlineberatungen eine schnelle Versorgung gewährleistet werden.

Die Idee geht zurück auf Stefan Lorenzl, Chefarzt der Neurologie und Palliativmedizin in Agatharied. Der 54-Jährige wirkt geradezu enthusiastisch, wenn er von seinem ambitionierten Projekt erzählt. Es habe früher zahlreiche Nachfragen zu neurologischen Patienten in der palliativen Phase gegeben, erzählt er. Die seien per Telefon jedoch nur schwer zu beantworten gewesen. "Wenn am anderen Ende kein Neurologe sitzt, ist das schwer einzuschätzen - die Patienten zu sehen, macht es um einiges leichter", sagt Lorenzl. Auch die Angehörigen werden aktiv mit einbezogen. Da neurologisch Erkrankte häufig an einer Sprechunfähigkeit leiden, können Familienmitglieder als "Sprachrohr" dienen. "Das ist schon sehr spannend, aber auch herausfordernd", sagt der Chefarzt.

Die Palliativmedizin befindet sich seit Jahren im Umbruch. Früher waren es fast ausschließlich onkologische Krankheitsbilder, die von Bedeutung waren. Nun werden auch vermehrt andere Erkrankungen in die palliative Versorgung miteingeschlossen. Dennoch spielen neurologische Krankheiten noch eine untergeordnete Rolle. Laut Lorenzl ist das darauf zurückzuführen, dass immer noch wenig Neurologen im palliativen Bereich aktiv sind. "Das ist traditionsgemäß in den Händen der Onkologie und Anästhesie", sagt er. Die medizinische Studie soll dazu beitragen, die Behandlung von unheilbar kranken Menschen auszuweiten. "Wir wollen zeigen, dass die häusliche palliative Versorgung von Menschen mit neurologischen Erkrankungen, ein Zukunftsprojekt ist", sagt Lorenzl. Die Leute sollen in dieser Lebensphase nicht alleine gelassen werden.

Das Projekt befindet sich seit Mitte Mai in der klinischen Phase. Zwei Pilotphasen sind bereits abgeschlossen. Derzeit sind insgesamt 15 ambulante Teams und Hospize an das Krankenhaus angeschlossen. "Wir hoffen, dass wir durch die Videokonsile die Symptomlast besser in den Griff bekommen, als Teams, die diese Methode noch nicht benutzen", sagt Weck. Um das zu überprüfen, werden die teilnehmenden Teams und Hospize einer Kontrollgruppe gegenübergestellt, die nicht auf die Onlineberatungen zurückgreift. Fragebögen für die Patienten, Ärzte und Angehörigen sollen einen systematischen Vergleich ermöglichen. Die Evangelische Hochschule Ludwigsburg ist maßgeblich an der wissenschaftlichen Auswertung beteiligt.

Klärungsbedarf gebe es laut einer Mitarbeiterin etwa bei der Patienten-Ärzte-Beziehung, die durch die Videokonsile eingeschränkt werden könnte. "Wenn die Beratungen per Video stattfinden, geht bei der Versorgung eventuell der nahe Kontakt verloren", so die Sprecherin. Für ein genaues Ergebnis sei es noch zu früh. "Bis jetzt ist der Eindruck entstanden, dass die Patienten sehr zufrieden sind." Auch die Fachärzte in Agatharied nehmen eine positive Resonanz wahr. "Die Teams sind froh darüber, dass sie uns die Probleme nicht mehr beschreiben, sondern wirklich zeigen können", sagt Weck. Bei den Patienten, für die ein Transport häufig eine enorme Belastung bedeute, komme das System gut an. "Die Leute sind erleichtert, wenn sie nicht in die Praxis kommen müssen - stattdessen können wir das per Video klären".

Nicht alle potentiellen Teilnehmer sind begeistert. Manchen fehlen auch die Kapazitäten

Die telemedizinische Versorgung hat laut Weck nicht nur Vorteile für die Patienten, sondern auch einen gesundheitsökonomischen Nutzen: "Es können dadurch Krankenhauseinweisungen vermieden und die Kosten gering gehalten werden", sagt sie. Außerdem sollen mit dem Projekt Strukturen gefestigt werden. Es sei ein "lernendes System", meint Chefmediziner Lorenzl. Die neurologischen Kompetenzen der Hospize und Palliativteams werden darüber gestärkt. Das geschehe auch durch speziell dafür ausgelegte Schulungen. "Von den Teams, die man über längere Zeit betreut, kommen immer weniger Nachfragen", erklärt Lorenzl. Genau das wolle man erreichen. So können auch deutlich mehr Teams involviert werden. "Wir wollen unbedingt mehr Patienten in die palliative Versorgung kriegen", sagt er.

Dennoch zeigen sich nicht alle begeistert von dem Vorzeigeprojekt. Einige ambulante Teams und Hospize haben das Angebot explizit abgelehnt. Andere zeigen zwar Interesse, hätten aber derzeit nicht genügend Kapazitäten. Auch nach Beginn der Studie sind Teilnehmer vereinzelt abgesprungen. Das hänge wohl auch mit der hohen Belastung während der Pandemie zusammen. Zudem seien viele Einrichtungen nicht unbedingt "forschungsaffin", vermutet Weck. Dazu kommt, dass man immer wieder mit Ton- oder Qualitätsproblemen zu kämpfen habe. Ein Anflug von Enttäuschung kann die Fachneurologin nicht verbergen. "Es ist schon schwierig gerade", sagt Weck, "das läuft langsamer an, als erwartet." Das sei aber normal, meint sie, "man ist natürlich erst mal sehr euphorisch".

Stefan Lorenzl zeigt sich optimistisch. Für ihn ist das erst der Anfang. Er geht davon aus, dass die Nachfrage nach Beendigung der Studie steigen wird. Das langfristige Ziel sei sogar eine deutschlandweite Vernetzung. Es habe bereits einzelne Anfragen aus anderen Bundesländern gegeben. Lorenzl hofft, dass auch andere Fachbereiche wie die Dermatologie oder Urologie auf die Telemedizin setzen: "Die medizinische Versorgung wird sich in der Zukunft stark verändern."

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