Aryna Sabalenka bei den US Open:Die unterschätzteste Zweitgesetzte der Grand-Slam-Geschichte

Aryna Sabalenka bei den US Open 2021

Noch wird Aryna Sabalenka nicht im Kreis der ganz großen Favoritinnen auf Grand-Slam-Siege verortet, ein Finaleinzug bei den US Open könnte das ändern.

(Foto: Frank Franklin II/dpa)

Kaum jemand hat Aryna Sabalenka als US-Open-Siegerin auf dem Zettel, selbst vor dem Halbfinale reden die meisten über ihre Gegnerin. Eine Anpassung ihrer Spielweise könnte dafür sorgen, dass sich das ändert.

Von Jürgen Schmieder, New York

Der erste Tipper auf die Grundlinie, die nächsten drei im Feld, dann schlägt sie auf - außer vor wichtigen Punkten, da können es insgesamt auch fünf Tipper sein. Wenn sie bei gegnerischem Aufschlag einen Ballwechsel gewonnen hat, starrt sie auf die Wand hinter sich, tippelt ein wenig und übt jeweils Vor- und Rückhand; nach Punktverlust lässt sie das mit den Schwüngen lieber.

Die Leute in New York reden nun wirklich über solche Details im Spiel von Leylah Fernandez; konnte ja keiner ahnen, dass die Kanadierin, die gerade ihren 19. Geburtstag gefeiert hat, mit Dreisatzsiegen unter anderem gegen Angelique Kerber, Naomi Osaka (Japan) und Elina Switolina (Ukraine) das Halbfinale der US Open erreichen würde. Da will man nun alles wissen, auch die neurotischen Eigenheiten, die viele Tennisprofis pflegen.

Die Favoritinnen vor dem Turnier: Osaka, klar. Ash Barty (Australien) und Karolina Pliskova (Tschechien), vielleicht noch Olympiasiegerin Belinda Bencic (Schweiz) und die formstarke Kerber. Nach der ersten Woche war von Sloane Stephens (USA) und Garbine Muguruza (Spanien) die Rede; nur eine entzog sich all den Spürnasen auf die mögliche Turniersiegerin, als wäre sie Jean-Baptiste Grenouille aus dem Roman "Das Parfum" von Patrick Süskind - der hat keinen Eigengeruch und wird deshalb kaum wahrgenommen. Aryna Sabalenka (Belarus) ist die wohl unterschätzteste Zweitgesetzte in der Geschichte eines Grand-Slam-Turniers; selbst vor diesem Halbfinale gegen Fernandez an diesem Donnerstag wird sie kaum registriert, was sich auch an den Ansetzungen zeigt.

Sabalenka war oft diejenige, die man anerkennend registrierte, die aber nicht mehr dabei war, wenn es um den Turniersieg ging

Drei Partien hatte sie bislang im Louis Armstrong Stadium absolviert, die zweitgrößten Arena auf der Anlage, eine auf dem Grandstand; erst zum Viertelfinale, das sie locker 6:1, 6:4 gegen Barbora Krejcikova (Tschechien) gewann, durfte sie ins Arthur Ashe Stadium. "Hach, es ist so schön hier - vor allem am Abend, mit diesen vielen Fans", sagte sie danach. Zum Vergleich: Der an Rang zwei Gesetzte bei den Männern, Daniil Medwedew (Russland), spielte bislang bereits vier Mal in der größten Tennisarena der Welt. Das hat nichts mit Sexismus zu tun, es gab dort genauso viele Frauen- wie Männerspiele; es sagt aber viel darüber aus, wie die Leute Aryna Sabalenka wahrnehmen.

2021 US Open - Day 9

Im Mittelpunkt der Gespräche: Die Kanadierin Leylah Fernandez.

(Foto: ELSA/AFP)

Sie ist erst 23 Jahre alt, und doch hat man das Gefühl, dass sie schon ewig dabei ist im Frauentennis. Das stimmt, sie ist bereits seit sechs Jahren auf der Profitour unterwegs; in den vergangenen drei war sie bei großen Turnieren oft diejenige, die man in der ersten Woche anerkennend registrierte (so wie Fernandez oder die Britin Emma Raducanu jetzt), die aber (anders als Fernandez und Raducanu jetzt) nicht mehr dabei war, wenn es um den Turniersieg ging - ihre Platzierung in der Rangliste jeweils am Ende der letzten drei Jahre: elf, zehn, elf. Nahe dran und doch weit weg, und vielleicht muss man Statistiken studieren, um zu begreifen, warum sie in diesem Jahr in Abu Dhabi und Madrid triumphiert, sowie in Wimbledon das Finale erreicht hat.

Sie prägt Ballwechsel schon immer möglichst schnell; ihr Aufschlag nähert sich regelmäßig der 200-km/h-Marke - eine Rarität im Frauen-Tennis -, ihr aggressiver Return soll die Gegnerin gerade bei deren zweitem Aufschlag unter Druck setzen. Ein Sabalenka-Ballwechsel ist schnell vorbei; doch gerade gegen starke, erfahrene Gegnerinnen war sie häufiger die Verliererin, weil die wussten: Ball im Spiel halten, Sabalenka wird schon irgendwann ungeduldig und prügelt den Ball ins Netz oder ins Aus. Sie spielt noch immer aggressiv und schnell, aber eben nur noch mit 95 Prozent der Geschwindigkeit und damit präziser und mit weniger Fehlern. Also, statt Haudrauf-und-Schluss lieber: Hau drauf, hau nochmal drauf - und dann ist Schluss.

Im Duell gegensätzlicher Philosophien dürfte die gewinnen, die es schafft, der anderen die eigene Spielweise aufzuzwingen

Sie will Punkte noch immer möglichst schnell beenden (ein Sabalenka-Ballwechsel bei diesen US Open dauert durchschnittlich nur 3,11 Schläge), und auch ihre Spiele sollen schnell vorbei sein. Bislang hatte sie nur in der ersten Runde gegen Nina Stojanovic (Serbien) einen Durchhänger im zweiten Satz, ansonsten dauerte keine ihrer Partien länger als 90 Minuten - genau deshalb ist dieses Halbfinale gegen Fernandez so spannend.

Die Kanadierin ist das Gesprächsthema auf der Anlage - wegen ihrer herrlich verrückten Neurosen, vor allem aber wegen ihrer Spielweise. Sie versucht bei Rückschlag erstmal, keinen Fehler zu machen; sie arbeitet sich in Ballwechsel hinein, bringt die Gegnerin mit Cross-Schlägen in krassen Winkeln zum Laufen, übernimmt sorgsam die Kontrolle - und probiert erst den Gewinnschlag, wenn sie sich sicher fühlt oder ihr keine andere Möglichkeit bleibt. Das führt zu längeren Partien (keine dauerte weniger als 105 Minuten) - und nun zum Treffen unterschiedlicher Philosophien. Es dürfte die gewinnen, die es schafft, der anderen die eigene Spielweise aufzuzwingen; im kompletten Match, vor allem aber in den entscheidenden Ballwechseln.

Wer nur ein paar Minuten nach dem Viertelfinalsieg von Sabalenka über die Anlage ging, der bemerkte, dass auf Trainingsplatz fünf noch jemand übte. Es war Sabalenka, die sich hin und her schicken ließ an der Grundlinie. Hin und her, immer wieder, bis zur Erschöpfung. Ein wenig Energie loswerden, sagte sie später, doch es sah doch arg danach aus, wie viele Ballwechsel gegen Fernandez laufen dürften. Am Ende der Einheit übte sie Returns, und bestimmt war es Zufall, aber: Ihr Trainingspartner tippte den Ball vor dem Aufschlag exakt vier Mal auf.

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