Europa:Mit Pathos und Milliarden

EU-Kommissionspräsidentin hält Rede zur Lage der Union

"Europa kann - und sollte wirklich - fähig und gewillt sein, mehr in Eigenverantwortung zu tun": Ursula von der Leyen am Mittwoch in Straßburg.

(Foto: Jean-Francois Badias/dpa)

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprüht geradezu vor Ideen, etwa zu Chip-Fabriken und zu Europas Verteidigung. Die Vorhaben würden große Summen kosten - nicht nur das ruft Kritiker auf den Plan.

Von Björn Finke, Josef Kelnberger und Matthias Kolb, Straßburg

Am Ende ihrer Rede setzt Ursula von der Leyen auf Unterstützung aus Italien. Die Kommissionspräsidentin stellt Bebe Vio vor, eine Rollstuhlfechterin, die bei den Paralympischen Spielen in Tokio Gold geholt hat. Während ihrer jährlichen Rede zur Lage der Union im Europaparlament hat von der Leyen zuvor fast eine Stunde lang einen großen Bogen geschlagen und Initiativen in so verschiedenen Bereichen wie Gesundheits-, Digital- und Sicherheitspolitik angekündigt. Nun geht es nicht mehr um trockene Politik, sondern um Emotionen und - wie so oft bei von der Leyen - um Pathos.

Die Abgeordneten begrüßen die 24-jährige Vio mit stehenden Ovationen. Von der Leyen nennt sie eine "Quelle der Inspiration" und lobt ihren Willen, Widerstände zu überwinden. Sie sieht dies als Geist von Europas neuer Generation an, "von all den jungen Menschen, die unsere Wahrnehmung verändern, was möglich ist". Die Begeisterung der Mutter von sieben Kindern geht sogar so weit, dass sie 2022 zum Jahr der europäischen Jugend erklären will - auch weil die jungen Leute in der Pandemie sehr gelitten haben. Und sie möchte, dass sich die EU von dieser jugendlichen Dynamik anstecken lässt.

In ihrer zweiten Rede zur Lage der Union seit Amtsantritt kündigt die CDU-Politikerin gleich mehrere Projekte an, denen diese Dynamik nicht schaden würde, damit sie es durch die träge EU-Politikmaschinerie schaffen: etwa eine Verteidigungsunion oder eine neue Gesundheitsbehörde. Mit den vergangenen zwölf Monaten ist sie, wenig überraschend, zufrieden - mit der Impfkampagne, dem Start des 800 Milliarden Euro schweren Corona-Hilfsfonds, dem ehrgeizigen Klimaschutzprogramm. Kommission, Parlament und Mitgliedstaaten hätten gemeinsam gehandelt, "als ein Europa. Und darauf können wir stolz sein".

Hier bekommt sie zum ersten Mal Szenenapplaus im coronamäßig schwach besetzten Plenum, doch später werden die Abgeordneten sie teilweise scharf kritisieren. "Ich höre Ihre Worte, aber sehe keine Taten", klagt Dacian Cioloș. Von der Leyen habe nicht den "politischen Mut", um den seit Januar gültigen Rechtsstaatsmechanismus für den EU-Haushalt gegen Länder wie Polen oder Ungarn einzusetzen, sagt der Liberale. Er wirft ihr vor, das Europaparlament zu missachten: "Sie machen Kompromisse mit den Mitgliedstaaten, anstatt mit uns Politik zu machen." Hingegen ist Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei (EVP) insgesamt zufrieden, wie die Pandemie bewältigt wurde. "Die Krise begann in China, aber die Lösung fanden wir in Europa", sagt er und lobt die schnelle Entwicklung der Corona-Impfstoffe in der EU.

Die Gesundheitskrise ist auch das erste große Thema der Rede - passenderweise, denn die bestimmt bislang ihre Amtszeit. Von der Leyen musste sich harsche Kritik anhören, als Anfang des Jahres Lieferungen von Covid-Impfstoff ausfielen, die die Kommission für alle Staaten bestellt hatte. Jetzt erklärt die 62-Jährige mit Genugtuung, dass die EU einer der Vorreiter bei der Impfquote sei - "allen Kritikern zum Trotz".

Die Kommission möchte Europa besser auf künftige Pandemien vorbereiten, mit einer neuen Behörde namens "Hera". Sie orientiert sich am Beispiel der US-Medizinbehörde Barda. Sie konnte beim Start der Pandemie Milliarden Dollar investieren, um Pharmakonzernen bei der Suche nach Impfstoffen und dem Aufbau von Produktionskapazitäten zu helfen. Auch deshalb lief die Impfkampagne in den USA schneller an als in Europa. Bis 2027 will von der Leyen die enorme Summe von 50 Milliarden Euro in den Bereich investieren.

Teuer werden auch die Pläne, die Halbleiterindustrie zu stärken. Einst war Europa ein wichtiger Hersteller von Chips, die heute in allen möglichen Geräten stecken. Doch inzwischen ist der Kontinent von Zulieferungen aus Asien abhängig. Um diese zu reduzieren und die "technologische Souveränität" zu stärken, solle die EU "gemeinsam ein hochklassiges europäisches Chip-Ökosystem schaffen", schwurbelt von der Leyen. "Eine enorme Herausforderung", bei der ein eigenes Chip-Gesetz helfen soll, das die Kommission präsentieren will.

Die EU brauche "mehr Eigenverantwortung"

Von der Leyen hatte 2019 versprochen, eine "geopolitische Kommission" zu führen, doch zuletzt schienen die Europäer auf globaler Bühne mehr Spielball zu sein als Akteur. Die Welt trete ein in eine "neue Ära verstärkter Konkurrenz" - und wer die Mächte sind, die ihr Verhältnis neu austarieren, ist klar: China und die USA. Die Ereignisse in Afghanistan, wo den EU-Staaten wieder schmerzlich klar wurde, wie abhängig sie vom US-Militär sind, sieht von der Leyen nicht als "Ursache, sondern als Symptom dieser Veränderungen". Die humanitäre Hilfe für das afghanische Volk soll um 100 Millionen Euro aufgestockt werden.

Als frühere Verteidigungsministerin hat von der Leyen klare Vorstellungen. Mit der Militärallianz Nato, der 21 der 27 EU-Staaten angehören, soll die EU bald eine gemeinsame Erklärung unterzeichnen, um noch enger zu kooperieren. Bei der laufenden Debatte um eine schnelle Eingreiftruppe der EU interessiert von der Leyen vor allem, warum bestehende Fähigkeiten nicht eingesetzt wurden. Sie ist überzeugt, dass es am politischen Willen fehlt und sagt: "Europa kann - und sollte wirklich - fähig und gewillt sein, mehr in Eigenverantwortung zu tun." Daher wird von der Leyen 2022 mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen "Gipfel zur Europäischen Verteidigung" abhalten.

Für die eigene Sicherheit seien Partnerschaften unerlässlich, sagt von der Leyen. Sie nennt neben den USA auch die Staaten der Westbalkan-Region, deren EU-Beitrittsperspektive sie verteidigt: "Das sind wir all den jungen Menschen schuldig, die an eine europäische Zukunft glauben." Enger kooperieren will die EU mit den Ländern der Indopazifik-Region, etwa mit Japan, Australien oder Südkorea. Dort würden "autokratische Regime versuchen, ihren Einflussbereich zu erweitern". Dass hier China gemeint ist, wird klar, als von der Leyen "Global Gateway" ankündigt. Dieses Projekt reagiert auf die Seidenstraße-Initiative der Volksrepublik; künftig will die EU ihren Partnern in Afrika und anderswo helfen, Infrastruktur aufzubauen, ohne sich in die Abhängigkeit Pekings zu begeben.

Ein Hauch von Bundestagswahlkampf

Besorgt ist die Kommissionschefin über die Medienfreiheit in der EU. "Journalistinnen und Journalisten werden angegriffen, einfach nur, weil sie ihre Arbeit machen. Einige werden bedroht und verprügelt, andere tragischerweise ermordet", sagt von der Leyen. Diejenigen, die Transparenz schafften, müssten jedoch geschützt werden, sagt sie und kündigt ein Medienfreiheitsgesetz an. Große Probleme haben unabhängige Journalisten auch in Ungarn und Polen, wo der Rechtsstaat stetig ausgehöhlt wird. Der Streit zwischen der Kommission und den Regierungen läuft seit Jahren, doch erst vor einer Woche beantragte die Behörde Strafgelder gegen Polen beim Europäischen Gerichtshof. Von der Leyen sagt, bei solchen Konflikten setze sie zunächst immer auf Dialog. "Aber er ist kein Selbstzweck, er muss zu einem Ziel führen", ergänzt sie.

In der mehrstündigen Aussprache hallt ein Echo des Bundestagswahlkampfs durch den Saal. Daniel Caspary (CDU) rühmt den Corona-Wiederaufbaufonds als einmaligen Ausdruck europäischer Solidarität und wirft "der linken Seite in diesem Parlament" vor, sie wolle die einmalige Sache zum dauerhaften Instrument europäischer Politik machen. Und nicht nur das: "Sie wollen eine Bankenunion, in der unsere deutschen Sparer ohne hinreichende Absicherung für Schlampereien in anderen Mitgliedsstaaten haften sollen." Und das mit Billigung von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, wie er behauptet.

Martin Schirdewan, der Fraktionschef der Linken, verlangt von SPD und Grünen hingegen, nach "neuen Mehrheiten" zu suchen, um Klimaschutz und Armutsbekämpfung voranzubringen. Der Grüne Sven Giegold fordert von der Leyen auf, den nationalen Regierungen mehr Tempo in der Klimapolitik abzuverlangen, und klagt: "Auch die klimapolitische Ambition der Bundesregierung bleibt hinter der Ambition Europas zurück." Jörg Meuthen von der AfD tobt seine Formulierungslust am "Moloch Brüssel" aus, dem das Geld ehrlicher deutscher Sparer in den Rachen geworfen werde. Er unterstellt von der Leyen, sie schiele mit ihrer Arbeit vor allem nach links: "Es kommt Ihnen doch sehr gelegen, dass in Deutschland eine Regierung aus roten Sozialisten, grünen Sozialisten und enteignungseuphorischen Kommunisten ante portas steht."

Als von der Leyen nach Dutzenden Wortmeldungen der Abgeordneten ans Rednerpult tritt, kann sie wählen, worauf sie antwortet. Meuthen ignoriert sie, stattdessen nennt sie die Kritik "Ansporn" und spricht neben der Klimakrise auch über die Rechtsstaatlichkeit und den Corona-Fonds, aus dem Ungarn und Polen noch kein Geld erhalten haben. Alle nationalen Projektpläne für den Fonds würden genau geprüft, ob die seit Jahren empfohlenen Reformen der Kommission aufgenommen würden, verspricht von der Leyen. Und sie hat eine Botschaft an Ungarns Premier Viktor Orbán: Wenn in den Empfehlungen "der Kampf gegen Korruption enthalten ist, dann wollen wir Maßnahmen gegen Korruption in dem Plan enthalten sehen, sonst können wir dem nicht zustimmen". Und für dieses Versprechen, standhaft zu bleiben, gibt es Applaus.

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