Hari Kunzru und Jonathan Lethem:Bleierne deutsche Zeit

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Ein paar Wochen am Wannsee können einen Thrillerautor schonmal schwermütig machen. (Foto: Florian Gaertner/photothek.net/imago/photothek)

Warum die Schriftsteller Hari Kunzru und Jonathan Lethem beide mit neuen Thrillern ihre Eindrücke vom Wannsee bei Berlin verarbeiten mussten.

Von Andrian Kreye

Die beiden preisgekrönten und gefeierten Schriftsteller Hari Kunzru und Jonathan Lethem leben beide in New York. Beide hatten vor einiger Zeit Stipendien der American Academy in Berlin. Die sind bei amerikanischen Schriftstellern, Künstlern und Akademikern so beliebt, weil man als Fellow ein halbes Jahr lang in der Ruhe einer Villa am Wannsee arbeiten kann und mit der S-Bahn trotzdem nur eine halbe Stunde in die aufregendste Stadt Europas braucht.

Von beiden erscheinen nun Romane auf Deutsch, die dort am Wannsee beginnen. Damit könnten die Gemeinsamkeiten auch aufhören. Lethems "Anatomie eines Spielers" ist eine seiner leicht absurd turbulenten Geschichten, wie "Motherless Brooklyn" eine war oder "Die Festung der Einsamkeit", die sich dieses Mal aus Berlin über Singapur und Kalifornien in eine weltgewandte Action-Fabel über die Farce jeder Flucht vor sich selbst katapultiert. Kunzrus "Red Pill" fügt sich wiederum in die Reihe seiner Bücher wie "White Tears" und "Götter ohne Menschen", die zeitgenössische Sozialkritik in einen magischen Realismus packen, mit dem er die Leitartikel-Halbwertszeit so vieler politischer Romane vermeidet. Eine Gemeinsamkeit haben sie aber eben doch: Beide lenken ihre Bücher mit den erstaunlich tristen Anfangspassagen am Wannsee in eine depressive Grundstimmung, die einen beim Lesen auf falsche Fährten lenken.

Jonathan Lethems Held ist der Weltenbummler Alexander Bruno, der davon lebt, reiche Männer beim Backgammon zu besiegen. Zu Beginn setzt er auf einem Fährboot über den Wannsee nach Kladow. Ein blinder Fleck in seinem Gesichtsfeld deutet an, was sich später in der Charité als einstweiliges Todesurteil über die Geschichte legt. Ein Hirntumor begleitet Bruno durch sein Leben, das für ein solches Schicksal eigentlich nicht ausgelegt ist. Zunächst aber betrachtet er auf der Fähre eine nicht mehr ganz junge Frau, was ihn zu Überlegungen über das Alter, die Erotik und die Erotik im Alter führt. Bevor er dann in der Villa des Wolf-Dirk Köhler erlebt, dass ihn seine Pechsträhne als Spieler von Singapur nach Berlin verfolgt. In eine Stadt, die düster bleibt, in der die Last der Geschichte einen Schleier des unterschwelligen Grusels über jede Szene legt. Der kollidiert filmgerecht mit dem Firnis aus Glamour und Glückskind, mit dem Alexander Bruno die Tragik seiner Biografie immer erfolgloser überdeckt.

Warum beide ihre Anfänge mit so viel Berliner Tristesse beschweren, ist kein Geheimnis

Noch tiefer in die morbide Aura der Berliner Außenbezirke steigt Hari Kunzru ein, der seine Zeit als Fellow der American Academy ganz direkt zum Thema des ersten der drei Teile seines Romans macht. Der Erzähler ist ein erfolgreicher britisch-indischer Schriftsteller, der in New York lebt und als Stipendiat einer Berliner Kulturstiftung an den klammdämmrigen Wannsee kommt (so weit also Kunzrus Alter Ego). Er ist (da beginnt die Fiktion) mit einer Menschenrechtsanwältin verheiratet, die redlich bemüht ist, zwischen ihren Aufgaben als Menschenretterin und Mutter via Videoschalte den depressiven Launen ihres Gatten beizustehen. Weil die Stiftung ihre Stipendiaten in ein beklemmendes Miteinander zwingt, das auch noch überwacht wird, befällt ihn sogleich eine schwere Schreibblockade. Der namenlose Schriftsteller verbringt seine Tage deswegen nicht im Gemeinschaftsraum mit Arbeit, sondern in seinem Zimmer, wo er die brutale Polizeiserie "Blue Lives" binget, und auf langen Spaziergängen, die ihn immer wieder zu Heinrich von Kleists Grab führen.

Man spürt gerade in diesem ersten Teil, mit welchem Eifer Kunzru sich offensichtlich auf seine eigene Zeit am Wannsee vorbereitet hat. Er hat die deutschen Romantiker gelesen, französische Klassiker, Kafka und sehr viel Kleist. Und dann steht die Villa, in der bei der Wannseekonferenz die sogenannte Endlösung beschlossen wurde, nur ein paar Hundert Meter übers Wasser am anderen Ufer. So viel Geschichts- und Bildungsballast und die Depressionen seiner Hauptfigur, mit denen der Erzähler nicht nur seiner Frau, sondern auch dem Leser bald ziemlich auf die Nerven geht, ziehen diesen ersten Teil so unnötig nach unten, wie die ersten Kapitel von "Anatomie eines Spielers". Da wirken die politische und literarische Geschichte Berlins und seiner Randbezirke, die sperrigen Versuche, deutsche Sprache oder Namen zu integrieren (Wolf-Dirk?) wie aufgesetzte Requisiten eines Gruseltheaters, ähnlich wie die Umlaute und Frakturschriften auf den Plattencovern angelsächsischer Metal Bands.

Hari Kunzru: Red Pill. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Liebeskind Verlag, München, 2021. 352 Seiten, 22 Euro. (Foto: N/A)

Dabei sind beide Romane aus sehr unterschiedlichen Gründen in ihren hinteren zwei Dritteln ein großes Vergnügen. Lethem schafft es schon bald, seine Figur des Alexander Bruno in ein Geflecht der Verwirrungen, Existenzkrisen und Popkulturverweise zu stoßen, wie einen hyperaktiven Teenager aufs Trampolin.

Kunzru schickt seinen Erzähler dagegen auf eine Stellvertreterreise in die politische Verwirrung dieser Tage. Die "Red Pill" des Titels ist dabei jener Begriff, der in der Meme-Welt des rechten Internets das vermeintliche Erwachen in der brutalen Wirklichkeit bezeichnet und die zwangsläufig die Absage an alles, was das Bürgertum unter liberalen Werten und Vernunft versteht. Die Rechten beziehen sich da auf die Schlüsselszene in "The Matrix", in der der Held die Wahl hat, die blaue Pille einzuwerfen und weiter in der Traumwelt dahinzuvegetieren, die sein Sklavendasein umgibt. Oder eben mit der roten Pille die Wirklichkeit zu erkennen. Es gibt den Begriff sogar als Verb. "To redpill somebody" bedeutet da, jemandem die Wahrheit zu zeigen.

Kunzrus Erzähler erlebt dieses "Redpilling" nicht ganz so eindeutig. Bei einer Party des Schöpfers jener Serie, die er so obsessiv ansieht. Der entpuppt sich als rechter Nihilist, der mit seiner Serie die sinisteren Werte der Altright-Bewegung in die Popkultur des Mainstreams schmuggelt. Da wird "Red Pill" dann bald schon zum zweifelnden und verzweifelnden Ritt in die politische Kultur einer Gegenwart, die für Kunzru mit Donald Trumps Auftritt begann, bei dem er im Sommer 2015 auf der goldenen Rolltreppe des Trump Tower zur Verkündung seiner Kandidatur schwebte. Dieser Moment, so Kunzru "war der Katalysator für die unterbeschäftigte protofaschistische Gamergate-Armee, sich zu einer effektiven politischen Kraft zu formieren."

Warum beide Autoren ihre Anfänge mit so viel Berliner Tristesse beschweren, ist kein Geheimnis. Beide mussten ihre offensichtlich bleierne Zeit am Wannsee verarbeiten. So viele Wochen in exotischem Umfeld wären ohne literarische Umsetzung für einen Schriftsteller geradezu verschwendete Lebenszeit. Einen Gefallen haben sich beide nicht getan, denn in keinem der beiden ansonsten sehr gelungenen Romane ergeben die Ouvertüren einen tieferen Sinn.

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