Kritik:Die Vermessung des Zauberbergs

Was hat Covid-19 mit Thomas Manns Roman zu tun? Bei der Saisoneröffnung im Großen Haus in Augsburg stellt Staatsintendant André Bücker sanfte Verbindungen her, um dann von den ganz großen Denkansätzen zu erzählen.

Von Yvonne Poppek, Augsburg

Kritik: Kritischer Blick auf die Fieberkurve: Julius Kuhn als Hans Castorp im "Zauberberg" im festen Griff des Sanatoriumpersonals (Michael Schrodt und Pascal Riedel).

Kritischer Blick auf die Fieberkurve: Julius Kuhn als Hans Castorp im "Zauberberg" im festen Griff des Sanatoriumpersonals (Michael Schrodt und Pascal Riedel).

(Foto: Jan-Pieter Fuhr)

Die Gesellschaft siecht dahin. Sie röchelt und hustet, Mattheit und Gereiztheit kriecht in Glieder und Gemüter. Im abgeschiedenen Dämmerzustand ist das spektakulärste Thema die Fieberkurve. Fragen drängen sich auf: Was ist Leben, Krankheit, Tod? Nein, es geht nicht um Covid-19, sondern um Thomas Manns "Zauberberg". Und ja, es ist tatsächlich naheliegend, an diesen Roman zu denken in der Zeit der Pandemie. Covid-19 hat die Menschen ebenso in die Isolation gedrängt, wie jene oben im Gebirge bei Davos im "Zauberberg". Lange Zeit waren die Kurvenverläufe der Krankheit das Tagesspitzenthema, Husten und Fieber die Parameter, die nervös die Wahrnehmung durchzuckten.

Sebastian Hartmann hat im vergangenen Winter den "Zauberberg" am Deutschen Theater Berlin inszeniert. Nun hat Staatsintendant André Bücker zur Eröffnung der Spielzeit im Großen Haus im Augsburger Martini-Park den knapp 1000-seitigen Roman für die Bühne adaptiert, komprimiert auf drei Stunden. Auch wenn im Programmheft ein Bezug zu Covid-19 hergestellt wird, hat Bücker darauf verzichtet, auf der Bühne damit plakativ umzugehen. Offensichtlich vertraut er darauf, dass Parallelen nicht extra markiert werden müssen. Er nimmt seinem Publikum das Denken nicht ab, steigert eher den Anspruch im Verlauf des Abends - der allerdings in zwei Teile zerfällt. Sei's drum, die Zuschauer, die nach so langer Zeit wieder in dicht besetzten Reihen sitzen dürfen, sind spürbar gewillt, dieses Live-Erlebnis durch alle Poren aufzunehmen.

Sina Barbra Gentsch hat auf die sich permanent bewegende Drehbühne ein schlichtes, funktionales Bühnenbild gebaut: drei Stahlrahmen, in denen spiegelnde Glaswände in verschiedene Richtungen geklappt werden können. Sie wirken durchlässig, doch eigentlich verzerren sie das Bild, verwirren den Blick, sind Hindernis und Täuschung. In diese Dämmerwelt taucht Hans Castorp ein: Julius Kuhn zeichnet ihn als sonnigen Kerl, unverdorben, höflich, ein junger Mann, der die Fäulnisse des Lebens maximal vom Hörensagen kennt. Doch rasch nimmt ihn das Sanatorium in seine lähmende Umklammerung, ist Krankheit das dominante Thema, statt drei Wochen bleibt Castorp sieben Jahre, verliebt sich, wartet, lauscht den Gesprächen, aber während die Welt sich weiterdreht, bleibt er letztlich stehen. Parallelen zur Pandemie sind da tatsächlich leicht zu entdecken.

Nach der Pause ändert die Inszenierung den Ton

Den ersten Teil des Abends widmet Bücker ganz Hans Castorp, zeichnet die Veränderung vom instinktiven Fluchtgedanken zur Hingabe in das Sanatoriumssystem nach. Dazu lässt er das Personal nacheinander auftreten, allesamt überzeichnete Figuren: Norbert Stöß als weißlockiger, dürrer Intellektueller Settembrini, Thomas Prazak als aufbrausend-labiler Patient Albin, Paul Langemann als dünnhäutiger Vetter Ziemßen. Mirjam Birkl gibt Clawdia Chauchat als femme fatale, Stephanie Schönfelds Dr. Krokowski prägt eine nahezu erotische Fixierung auf die menschliche Psyche, Kai Windhövels Hofrat Behrens hat eine nicht minder gestörte Neigung für die Krankheit. Später kommt noch Andreij Kaminskys Naphta als Unterwelt-Fährmann hinzu, ebenso Michael Schrodts Lebemann Peeperkorn. Pascal Riedel sorgt in drei weiblichen Nebenrollen für die abgedreht-lustigen Elemente des Abends.

Bücker arbeitet mit wunderschönen Bildern, hält alles in fließender Bewegung. Und genauso wie Castorp in den Sog der Sanatoriumsgesellschaft gerät, zieht es einen hinein in den Abend. Dann, nach der Pause, ändert die Inszenierung den Ton, setzt aufs Große, auf die weltanschaulichen Diskussionen zu Zeit, Leben, Tod, Krankheit, Freiheit, Gott, Kapital, um nur einige zu nennen. Statt um eine Figur, geht es nun um die Denkansätze, die Thomas Mann in seinem Roman verarbeitet hat. Je ausufernder die Dialoge, desto zielloser das Spiel. Viel, vielleicht zu viel hat man hier hineingepackt. Trotzdem: Die einmal von Bücker und dem wunderbaren Augsburger Ensemble entfachte Theaterzauberkraft hält diese Parforcejagd durch Manns Roman zusammen.

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