Deutsches Schauspielhaus Hamburg:Auf Leben und Tod

Kindeswohl

Die Familienrichterin Fiona May (Julia Wieninger) ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, aber mit ihrem Mann (Paul Herwig) gibt es nur noch Zoff.

(Foto: Matthias Horn)

Karin Beier inszeniert am Schauspielhaus Hamburg "Kindeswohl" nach dem Roman von Ian McEwan. Und zeigt, was Theater könnte.

Von Alexander Menden

Gleich zu Beginn ein Rampenmonolog, hinterfangen von einem leeren schwarzen Bühnenraum, auf dem nur ein paar Stühle und Instrumente stehen: "In meinem Kopf sitzt etwas, das jeden Satz ergänzt mit: Du stirbst", sagt Paul Behren. Es schwingt etwas Inbrünstiges in seiner Stimme mit, das Sehnsucht nach dem Unvermeidlichen suggeriert. Behren spielt den 17-jährigen Adam Henry. Adam hat Leukämie, und er weiß, dass sie ihn töten wird, wenn er keine Bluttransfusion bekommt. Doch diese Transfusion lehnt er ab, ebenso wie seine Eltern, aus religiösen Gründen. Die Henrys sind Zeugen Jehovas.

Im Laufe dieses zweistündigen Abends am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg wird es viele Abwägungen, Debatten und Meinungsänderungen über die Frage geben: Sollte man Adam zu seinem Glück beziehungsweise seiner Gesundheit zwingen? Oder hat die Freiheit Vorrang, seine Religion frei auszuüben? Die letzten Dinge des Menschseins zu verhandeln, dazu war das Theater schon immer da. Es ist daher durchaus naheliegend für die Schauspielhaus-Chefin Karin Beier, Ian McEwans Roman "Kindeswohl" von 2014 auf die Bühne zu bringen (eine vielgelobte Filmversion mit Emma Thompson in der Hauptrolle kam 2017 heraus).

Lebensschutz und Fürsorge für Minderjährige versus Selbstbestimmung - das ist das dicke Brett, das hier gebohrt wird. Im Zentrum des Ganzen steht aber nicht der todkranke Adam, sondern Fiona Maye, die als Familienrichterin am Londoner High Court in solchen schwierigen Fällen über das Schicksal von Minderjährigen entscheidet. Sie hat abzuwägen, ob die philosophischen Argumente, die Adam ihr in einem Zwiegespräch vorträgt, stichhaltig genug sind, um ihn nicht zu behandeln. Gespielt wird sie in Hamburg von Julia Wieninger, die die Figur von Beginn an neurotisch und seltsam selbstbezogen anlegt.

Es geht um moralische Argumente und juristische Debattenbeiträge, drei Musiker spielen live dazu

Viel Exposition und Handlung werden in Erzählungen verpackt, welche die Produktion raffen, sie aber oft auch unbeweglich und undramatisch erscheinen lassen. Diesen Eindruck verstärken die langen Monologe, in denen verschiedene Anwälte und ein Arzt den Fall aus ihrer Warte beurteilen.

McEwan recherchierte sein Buch in den Londoner Inns of Court und legte es über weite Strecken als eine Art Abhandlung über das britische Rechtssystem an. Die Figuren in Hamburg hingegen sprechen in erster Linie über Grundsatzfragen. "Auch Mehrheiten können irren", heißt es da, oder: "Adam muss vor seiner Religion und vor sich selbst geschützt werden." Debattenbeiträge, die inhaltlich dicht und interessant sind, aber wenig theatrales Potenzial haben. Für Atmosphäre sorgen stattdessen ein Pianist, eine Violinistin und ein Cellist, die auf der Bühne den zirpenden Soundtrack verfertigen.

Auch einen laufenden Kommentar liefert das Ensemble, gleich einem griechischen Chor: "Was macht sie da?", fragt Yorck Dippe, der Fionas Kollegen Mark Berner als Amateurtenor mit Witzbold-Ambitionen spielt, und meint damit Fiona, die Marks Meinung nach gerade in eine Argumentationsfalle des Teenagers tappt. "Was macht sie da?", fragt man sich als Zuschauer allerdings noch öfter. Denn die Richterin gerät Julia Wieninger so verkrampft, dass man kaum nachvollziehen kann, warum Adam ihr - nach ihrem lebensrettenden Urteil, ihn gegen seinen Willen zu behandeln - nachspürt und darum bittet, bei ihr wohnen zu dürfen.

Zum Gerichtsdrama kommt auch noch das Ehedrama

Daheim hat Fiona es auch so schon nicht leicht: Ihr Mann Jack - Paul Herwig als schluffiger Midlifekrisen-Gatte - bittet um Erlaubnis, eine Affäre haben zu dürfen, weil zwischen ihm und der vielbeschäftigten Richterin jede Intimität erloschen ist. Im Roman ist dieser Ehekonflikt deutlich stärker mit der Entwicklung der Haupthandlung verwoben. Er erlaubt es dem Autor, die fundamentalen Probleme Fionas aus einem anderen Blickwinkel zu beleuchten: Ihren Kontrollwahn, das Oszillieren zwischen Überlegenheitsanspruch und Unsicherheit, ihre geschwundene Fähigkeit, die Sprachlosigkeit, die aufgrund ihrer Fokussierung auf die Arbeit zwischen ihr und Jack entstanden ist, als Warnsignal zu verstehen.

Doch am Deutschen Schauspielhaus Hamburg bleibt das eheliche Drama ein seltsam abgetrennter Nebenschauplatz. Fiona reagiert auf alles und jeden, seien es Kollegen, Adam oder Jack, mit der gleichen genervten Gereiztheit, dem gleichen nervösen, statussichernden Gehabe. Und es wirkt wenig organisch, dass die Richterin, die in einem Gerichtsensemble Klavier spielt und singt, an Adam über eine Vertonung des Rilke-Gedichts "Schlussstück" herankommt. Nur gegen Ende, als genau dieses Stück ("Der Tod ist groß. Wir sind die seinen") bei einer Feier aufgeführt wird und Fiona ihn, voller Verzweiflung über die letzten Entwicklungen, klagend singt, bekommt die Inszenierung noch mal eine unerwartete Fallhöhe. Danach verläppert sie in der Coda durch allzu kleinteilige Verzwirbelung aller Handlungsstränge, und man bleibt mit dem Eindruck einer vertanen Chance zurück.

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