Bundestagswahl 2021:Bye Bye, Bundestag

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Lothar Binding (SPD) und sein Zollstock: Der finanzpolitische Sprecher der SPD-Fraktion wurde so zu einer kleinen Berühmtheit. Nun hört er auf. (Foto: Fabian Sommer/dpa)

Ein Meterstab im Plenum, die Königin des Fragenstellens und zwei ehemalige Bundesminister: Was und wer im neuen Bundestag fehlen wird.

Von Johannes Korsche, München

Wenn Lothar Binding (SPD) am Rednerpult des Bundestags zur Innentasche seines Sakkos greift, wissen seine Kollegen schon, was als Nächstes passiert. Aus dem Inneren seines Sakkos zieht Binding in der Regel einen Zollstock hervor. Zur Veranschaulichung. Einmal malte er zum Beispiel vier Zentimeter am unteren Ende des Zollstocks schwarz an. Das sei der Durchschnittslohn eines Arbeitnehmers, erklärte er den Abgeordneten und klappte den Meterstab auf seine volle Länge aus. Doch selbst diese zwei Meter seien nicht genug, um die Managergehälter im Verhältnis zum normalen Arbeiterlohn anzuzeigen, führte er weiter aus. "Die Ausgangslage in der Gesellschaft ist durcheinandergekommen", brachte er seine Pointe nach Hause.

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Wenn sich das neu gewählte Parlament im Oktober zum ersten Mal trifft, wird Binding nicht mehr dabei sein. Der Zollstock hat ausgedient. Der 71-Jährige saß seit 1998 im Bundestag, arbeitete sich hoch zum finanzpolitischen Sprecher seiner Fraktion. Sein Zollstock hat ihn trotz seines eher spröden Themas zu einer kleinen Berühmtheit werden lassen. Im Internet gibt es Zusammenschnitte seiner Zollstock-Reden, der SPD-Shop hat seitdem einen "hölzernen Zollstock für gute Arbeit" im Angebot. Binding ist einer von knapp 130 Abgeordneten, die sich nicht noch einmal zur Wahl gestellt haben.

Ulla Schmidt (SPD) war von 2001 bis 2009 Gesundheitsministerin. Und ist damit Rekordhalterin für die längste Amtszeit auf dem Posten. (Foto: Thomas Trutschel/Imago)

Darunter ist auch die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Die heute 72-Jährige führte das Ministerium zwischen 2001 und 2009 - und ist seither Rekordhalterin mit der längsten Amtszeit auf diesem Posten. In diese Zeit fiel unter anderem die Einführung der Praxisgebühr. Die Zehn-Euro-Pauschale, die man von 2004 an pro Quartal beim Arzt zahlen musste, wurde neun Jahre später allerdings wieder abgeschafft. Da stand Schmidt bereits nicht mehr in der ersten Politikerriege. 2009, mitten im Bundestagswahlkampf, wurde ihr der Dienstwagen im Spanienurlaub geklaut. Das führte damals zu der Frage, warum sich denn der Dienstwagen und der dazugehörige Fahrer überhaupt in Spanien aufhielten. Und letztlich dazu, dass sie aus dem Kompetenzteam des damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier flog. In den Bundestag kam sie trotzdem noch. Schmidt war seit 1990 durchgehend Abgeordnete.

Thomas de Maizière (CDU) beendet ebenfalls seine bundespolitische Karriere, er war Innen- und Verteidigungsminister. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Ein weiterer ehemaliger Minister wird dem Parlament künftig nicht mehr angehören: Thomas de Maizière (CDU). Er leitete das Innenministerium gar zwei Mal. Das erste Mal zwischen 2009 und 2011, dann von 2013 bis 2018. Dazwischen war er für das Verteidigungsministerium zuständig. Auch ohne die Ministerposten wäre de Maizière wohl ein Platz in der politischen Geschichte Deutschlands sicher gewesen. Als Mitglied der Verhandlungsdelegation für den Einigungsvertrag gestaltete er 1990 die Wiedervereinigung mit. Ebenso wie sein Cousin Lothar de Maizière, der zudem der erste und letzte frei gewählte DDR-Ministerpräsident war.

Mit Anja Hajduk (Grüne) hört eine ausgewiesene Haushaltsexpertin der Grünen auf. Ihr Abschiedsgeschenk: Sie arbeitete wesentlich am grünen Wahlprogramm mit. (Foto: Michael Gottschalk/imago)

Die Grünen verlieren mit Anja Hajduk ihre vielleicht anerkannteste Haushaltsexpertin. Selbst FDP-Vize Wolfgang Kubicki, der selten um eine Gemeinheit gegen den politischen Gegner verlegen ist, lobte kürzlich ihre "segensreiche Arbeit" im Haushaltsausschuss. Die so gepriesene 58-Jährige bleibt da nüchterner: "Mir liegt der Umgang mit Zahlen", sagt sie. Ein Satz, der ihrem Ruf als nüchterne und präzise Erz-Reala bestätigt. Früh schon hat sie durchgerechnet, wie grüne Klimapolitik finanziert werden kann. Von ihr kam beispielsweise die Idee im grünen Wahlprogramm, die Schuldenbremse zu reformieren und an ein Investitionsprogramm zu knüpfen. Sie instruierte auch Robert Habeck, als der sich in die Finanzpolitik einarbeitete. Und so hallt vielleicht ein wenig von dem Wirken der gebürtigen Duisburgerin in der Bundespolitik nach, wenn sie nun nach insgesamt 14 Jahren als Abgeordnete aufhört.

Hermann Otto Solms (FDP) war der zweitälteste Abgeordnete im Bundestag. Auch der Finanzexperte der freien Demokraten tritt ab. (Foto: Sammy Minkoff/imago)

Den gekonnten Umgang mit Zahlen reklamierte auch Hermann Otto Solms (FDP) stets für sich, seiner Homepage gab er zum Beispiel die Überschrift: "Für eine Politik, die rechnen kann". Der FDP-Finanzexperte zog 1980 das erste Mal in den Bundestag ein, damals noch in Bonn. Seitdem galt: War die FDP im Parlament vertreten, dann war es auch Solms. 37 Abgeordneten-Jahre sind so zusammengekommen. Vor allem während der Griechenlandkrise war er ein gern gebuchter Gast in den Polittalkshows des Landes, wahrscheinlich wegen seiner streitbaren Haltung. Wäre es nach ihm gegangen, würden die Griechen heute nicht mehr mit dem Euro bezahlen. Er forderte wiederholt deren Austritt aus der Euro-Zone und schlug eine Parallelwährung für das hochverschuldete Land vor. Solms ist nun 80 Jahre alt und damit der zweitälteste Bundestagsabgeordnete der vergangenen Legislatur. Nur Wilhelm von Gottberg (AfD) ist ein paar Monate älter. Beide hängen das Abgeordneten-Sakko an den Nagel.

Man wird ja mal nachfragen dürfen, dachte sich Ulla Jelpke (Linke) in ihrer Abgeordnetenzeit. Tausende Anfragen an die Bundesregierung hat sie gestellt. (Foto: Christian Spicker/imago)

Misst man die parlamentarische Arbeit der Opposition in Kleinen Anfragen, dann verliert die Volksvertretung seine vielleicht fleißigste Abgeordnete. Ulla Jelpke (Linke) stellte nach eigener Schätzung 500 bis 600 dieser Anfragen - pro Legislaturperiode. Zumindest in den vergangenen beiden Wahlperioden waren es laut Bundestagsstatistik sogar eher doppelt so viele. Der ein oder andere Ministerialbeamte dürfte sich daher heimlich freuen, weil die 70-jährige Jelpke dem neuen Bundestag nicht mehr angehört. Vielleicht lag der gebürtigen Hamburgerin auch einfach das Fragen, sie arbeitete zwischen 2002 und 2005 als Ressortleiterin der Innenpolitik bei der linken Tageszeitung Junge Welt. Eine Journalistin fragt eben gerne.

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