Berlin-Marathon:Endspurt mit der Vergänglichkeit

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Unter seinem Niveau: Kenenisa Bekele trottet am Sonntag als Dritter in 2:06:47 Stunden ins Ziel. (Foto: Lisa Leutner/AP)

Altmeister Kenenisa Bekele hat beim Berlin-Marathon große Mühe mit dem Versuch, seiner sportlichen Endlichkeit davonzulaufen. Der 39-Jährige wird Dritter, aber der innere Antrieb ist immer noch groß.

Von Johannes Knuth, Berlin

Kenenisa Bekeles Blick sagte alles. Gerade erst hatte er seine Widersacher eingesammelt, Recht und Ordnung wieder hergestellt nach rund 36 Kilometern. Jetzt würde der Großmeister aus Äthiopien bestimmt allen zeigen, wie man so einen aufgekratzten Marathon zu einem funkelnden Ende bringt. Aber dann büxte ihm Guye Adola schon wieder aus, sein Landsmann und lästigster Rivale an diesem Tag. Und gerade als Bekele aus seinem nächsten Tief herauszuklettern versuchte, flog der Nächste an ihm vorbei, ein gewisser Bethwel Yegon aus Kenia. Bekele blickte kurz zur Seite, und nun erspähte man zwei Augen, aus denen nicht mehr nur Verwunderung sprach. Bekeles Blick sagte: Ich schaffe es nicht.

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Alles war ja hübsch angerichtet gewesen an diesem Septembersonntag in Berlin: Der weltweit erste große Stadtmarathon nach fast zwei Jahren des Stillstands, Windstille, Sonne, der topfebene Kurs. Und der große Bekele, der mit 39 Jahren noch mal mit dem Weltrekord flirten und auch ein bisschen der eigenen Vergänglichkeit davonlaufen wollte. Aber wie das so ist, die Zeit gewinnt dann doch immer, und am Ende zeigte dieser Sonntag in Berlin, dass Bekeles Zeit vielleicht doch schon naht. Oder wie sonst sollte man das deuten, Platz drei in 2:06:47 Stunden?

So fiebrig hat sich der Langstreckenlauf in den vergangenen Jahren entwickelt, dass Bekele oft wie ein Relikt aus einer anderen Epoche wirkte. Auf der Bahn war er über Jahre nicht zu bezwingen gewesen, mit drei Olympiasiegen und fünf WM-Titeln. Seine Weltrekorde über 5000 Meter (12:37,35 Minuten) und über 10 000 (26:17,53) waren bis zum vergangenen Jahr der Goldstandard, bis zur Ankunft der umstrittenen Superschuhe, in denen Joshua Cheptegei zuletzt zu neuen Fabelzeiten marschierte. Eigentlich war mal alles geebnet gewesen für Bekele, nach Olympia 2012 zog er zum Marathon um, wo Haile Gebrselassie für ein paar Jahre den Weltrekord innehatte, Bekeles Landsmann, Volksheld und großes Vorbild. Der Weltrekord, vielleicht sogar der Olympiasieg auf der Langstrecke, das würde Bekele endgültig über seinen prominenten Vorfahren erheben - das treibe den 39-Jährigen noch immer an, hatte sein Manager Jos Hermens einmal im Gespräch gesagt.

Das Karriereende? Bekele denkt noch immer an den Weltrekord

Aber der Marathon ist nun mal ein anderes Leben. Eines, das erst nach 30 Kilometern beginnt, wie bei einer Expedition auf einen 8000er im Himalaya, wo man auch im 100. Versuch nie weiß, wie der Körper den Tanz mit den Extremen verkraftet. Bis zum Sonntag in Berlin war Bekele elf Marathons gelaufen, drei hatte er gewonnen, vier vorzeitig verlassen - eine blasse Bilanz verglichen mit Eliud Kipchoge, dem Überläufer der Neuzeit: 15 Marathons, 13 Erfolge, zwei Olympiasiege, und, klar, der Weltrekord (2:01:39). Nachdem Bekele 2018 in Amsterdam mal wieder aus einem Rennen gepurzelt war, brodelte Hermens, der auch Kipchoge berät: Bekele sei mindestens so begabt wie Kipchoge, aber während der Kenianer sich monatelang der Entbehrung hingebe, würde sich Bekele oft nur sechs, sieben Wochen ins Training vertiefen. Der Äthiopier leide unter einer Art sportlicher Leseschwäche, polterte Hermens, er schaffe es einfach nicht, ein größeres Projekt durchzuziehen.

Statt Rekorden und Hymnen häuften sich die Geschichten über einen, der seine Begabung verschleudere. Bekele, der Pizza in sich hineinschaufelt, während ihn der Physiotherapeut behandelt. Der zwischen seinen Hotels und Geschäftspartnern hin- und herjettet. Der lieber italienische Edeltreter ausführt statt seine Laufschuhe. Und der dann wieder Unwirkliches aufführte. Vor zwei Jahren verfehlte er Kipchoges Weltrekord in Berlin um zwei läppische Sekunden, nicht mal mit ganzer Schaffenskraft, sagte er. Es folgte eine fast zweijährige Rennpause bis zu diesem Sonntag: wegen der Pandemie, wegen des Krieges in Äthiopien, wegen des Todes seines Vaters, auch wegen einer Corona-Infektion. Aber zuletzt, beteuerte Bekele, habe er sich besser präpariert, auch wenn er zuletzt im Training nicht einen Lauf über 38 Kilometer geschafft und sogar überlegt hatte, den Start in Berlin wieder abzusagen. Sein Chassis, sagte Hermens am Sonntag in Berlin, werde immer brüchiger, aber Bekeles Motor habe noch immer die Schubkraft eines Ferraris.

Diesen Eindruck hatte man zuletzt immer wieder: dass Bekele sich erst seiner sportlichen Endlichkeit gewahr werden musste, um sich noch mal aufzuraffen. Und es sah am Sonntag ja nicht schlecht aus: Er ließ die Spitzengruppe zunächst ziehen, die den Halbmarathon in irrwitzigen 60:48 Minuten rannte, sammelte Läufer und Läufer ein, als die Wärme den Athleten immer mehr zusetzte und der Weltrekord längst in weiter Ferne war. Doch gerade, als Bekele das Rennen auf seiner Seite hatte, machte sich Adola wieder davon - diesmal reichte es zu seinem ersten Marathon-Triumph, in 2:05:45 Stunden. Bekele ließ derweil sogar Yegon ziehen. Aber nein, beteuerte er später, seine Karriere sei sicher noch nicht verklungen. Er müsse sich nur endlich mal mehrere Monate störungsfrei vorbereiten können. Dabei denke er auch gar nicht an den Weltrekord. Sondern: "Ich kann noch schneller laufen. Ich habe das Potenzial."

Neustart: Knapp 25 000 Läufer zeigen am Sonntag in Berlin, dass gemeinsames Laufen auch in der Pandemie funktionieren kann. (Foto: Andreas Gora/dpa)

Die Frau mit dem meisten Potenzial am Sonntag war etwas überraschend die Äthiopierin Gotytom Gebreslase, in 2:20:09 Stunden. Rabea Schöneborn kämpfte sich als beste Deutsche auf Rang neun, in 2:28:49. Philipp Pflieger, der beste Deutsche, war am Ende froh, nach holpriger Vorbereitung überhaupt durchgekommen zu sein (2:15:01). Der größte Sieger waren am Ende wohl die Berliner Veranstalter und die 24 796 geimpften, genesenen oder getesteten Starter, die gezeigt hatten, dass das sehr wohl geht: gemeinsames Laufen in der Pandemie. Viele Veranstalter werden in den kommenden Wochen nachziehen, von Tokio über London, Chicago und Boston bis Anfang November in New York. Dort steht übrigens ein interessanter Gast auf der Startliste: Kenenisa Bekele.

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