Berlin:Franziska Giffey an der roten Linie

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Sie hat Bettina Jarasch von den Grünen geschlagen, nun aber kommt die wirklich knifflige Aufgabe: Franziska Giffey im Wahlstudio. (Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Die Sozialdemokratin will Regierende Bürgermeisterin werden. Und sie will keine Wohnungskonzerne enteignen. Aber 56 Prozent der Berliner wollen es. Jetzt wird's interessant.

Kommentar von Jan Heidtmann

Berlin galt immer auch als rote Stadt - eine Zuschreibung, der ihre Bewohner jetzt wieder einmal Ehre gemacht haben. 56,4 Prozent der Berliner Wähler stimmten am Sonntag dafür, dass große profitorientierte Wohnungsunternehmen gegen eine angemessene Entschädigung vergesellschaftet werden sollen. Das ist weit mehr, als selbst die Initiatoren von "Deutsche Wohnen & Co enteignen" zu hoffen gewagt hatten. Wenn es ums Wohnen geht, ist der Berliner anscheinend mehr Sozialist als Kapitalist.

Dass in der Hauptstadt demnächst die Räterepublik ausgerufen wird, darum muss sich dennoch keiner sorgen. Der Volksentscheid war nicht als Gesetzestext formuliert, daher hat er keinerlei rechtlich bindende Wirkung für den nächsten Berliner Senat. Auch als 2017 fast 57 Prozent der Berliner entschieden, der Flughafen Tegel müsse offen gehalten werden, ließen ihn die Regierenden dennoch schließen. Trotzdem wird der Enteignungsentscheid die Politik massiv beeinflussen.

Eine Klemme, die sie sich selbst geschaffen hat

Anders als Tegel ist Wohnen das politische Thema, welches die Berliner am meisten bewegt. Selbst die Sicherheit auf den Straßen oder die Verkehrswende folgen deutlich dahinter auf Platz zwei und drei. Die rasch steigenden Mieten, der Ausverkauf von Teilen der Stadt an Börsenkonzerne spaltet die Bewohnerschaft zusehends. Die große Zustimmung für die Enteignung ist auch als heftige Reaktion zu lesen - auf die offensichtliche Hilflosigkeit, mit der der Senat dem Problem bisher begegnet ist. Der nächste wird deshalb nicht umhin kommen, sich dem Wohnen weit konstruktiver zu widmen.

Franziska Giffey gerät durch das klare Votum für Enteignungen als künftige Regierende Bürgermeisterin in eine Klemme, die sie sich selbst geschaffen hat. Im Wahlkampf hatte die Sozialdemokratin die Vergesellschaftung als "rote Linie" definiert, die sie für keinerlei Koalition überschreiten würde. Ihre gesamte Kampagne zielte auf die Mitte, auch eine sogenannte "Deutschlandkoalition" mit CDU und FDP scheint für Giffey denkbar zu sein.

Rein rechnerisch könnte das knapp funktionieren, doch die starken Zugewinne der Grünen zusammen mit dem klaren Votum beim Volksentscheid zeigen an: In Berlin herrscht offenbar mehrheitlich keine Wechselstimmung. Ein größerer Teil der Hauptstädter will, dass die Koalition aus SPD, Grünen und der Linken ihre Arbeit fortsetzt. Die zusätzlichen Stimmen für die Grünen kompensieren die geringen Verluste der Linken bei Weitem.

Das schlechteste Ergebnis seit dem Krieg

Giffey würde sich auch innerhalb der SPD schwertun, ein anderes Bündnis durchzusetzen. Die Berliner Sozialdemokraten sind ein eher linker Landesverband, den konservativen Kurs ihrer Spitzenkandidatin haben sie geduldet, weil sie ihre einzige Chance war. Doch ist sie deutlich unter den angekündigten 25 Prozent der Stimmen geblieben; 21,4 Prozent sind sogar ein Rückgang um 0,2 Prozentpunkte. Mit Franziska Giffey hat die SPD das schlechteste Ergebnis seit dem Krieg überhaupt eingefahren. Die Beinfreiheit, die sie für Koalitionsverhandlungen gerne hätte, werden ihr die Genossen kaum lassen.

Immer wieder hat sich die Spitzenkandidatin als künftige Bürgermeisterin für alle Berliner inszeniert. Nach dem klaren Votum des Volksentscheids muss sie nun umdenken, wenn dieser Anspruch bleiben soll. Denn 56 Prozent der Berliner lassen sich nicht einfach so hinter eine rote Linie verbannen.

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